Eine Rezension von Licita Geppert

Streifzüge durch die Geschichte Britanniens

Edward Rutherfurd: Der Wald der Könige
Roman. Aus dem Englischen von Karin Dufner.
Karl Blessing Verlag, München 2000, 794 S.

„Was ist das Leben? Ganz gewiß keine Abfolge von Ereignissen im Uhrzeigersinn, sondern eher ein Sammelsurium von Erinnerungen - von einigen wenigen zumindest.“

Ich gestehe, daß ich nach dem spannend-informativen Sarum das Erscheinen von London verpaßt habe und nun erst durch Der Wald der Könige darauf aufmerksam wurde, daß Edward Rutherfurd seine historischen Reportagen sorgsam weitergeführt hat. Jedesmal wählt sich der Autor eine Region aus, anhand derer er den Leser die Geschichte Britanniens mit all ihren Irrungen und Wirrungen, ihren Auf- und Abschwüngen, ihrem Zick und Zack nacherleben läßt. So hat jedes Gebiet, trotz seiner geringen Ausdehnung, seinen eigenen Anteil an der Geschichte der Britischen Inseln, der jedesmal in einzelnen kürzeren Episoden dargestellt wird.

War es in Sarum, das einen der ältesten Siedlungsorte (in der Umgebung von Salisbury gelegen) beschreibt, ein Zeitraum von den Anfängen der menschlichen Besiedlung zur Zeit der Abspaltung der Insel vom Festland bis in die jüngste Vergangenheit, so sind es in Der Wald der Könige nur etwa neunhundert Jahre, die aber (nach der Eroberung durch die Normannen im Jahre 1066) die Entstehung und Entwicklung der heutigen Gesellschaft umreißen.

Der Wald der Könige ist der New Forest, ein Landstrich zwischen Salisbury und der Isle of Wight, begrenzt durch den Solent, der einen ganz eigenen Menschenschlag hervorgebracht hat. Zwar gehörte der New Forest dem König, der dort sein Wild, vor allem Rot- und Damhirsche, züchtete, doch die Menschen, die hier (ein)geboren waren, verfügten seit alters her über die vielfältigsten Rechte, die sie bis in die jüngere Vergangenheit behielten. Ein Überleben ohne diese Rechte des Holzsammelns und Torfstechens, des Freilaufens der Ponies, Rinder und Schweine, des Verwertens der Früchte des Waldes wäre angesichts der Kargheit des Bodens unmöglich gewesen. Der Wald bildete einen eigenen Organismus, in dem jedes Lebewesen seinen eigenen wichtigen Platz innehatte. Daran änderten die normannischen Eroberer klugerweise ebensowenig wie die angelsächsischen Fürsten vor ihnen. So vielgestaltig wie Flora und Fauna des Waldes sind auch die Menschen, die in ihm und an seinen Rändern lebten.

In sieben Episoden dürfen wir durch das Schlüsselloch der Geschichte blicken und die gesellschaftlichen Zustände und Umbrüche miterleben. Das Besondere an Rutherfurds Erzählweise ist, daß er die genealogischen Linien der handelnden Personen für den Leser nachvollziehbar gestaltet (obwohl er hier leider versäumt, die Stammbäume wie in Sarum aufzuführen). So werden nicht nur Lebensfäden versponnen, sondern gleichzeitig auch gesellschaftliche Verflechtungen deutlich. Die Blutlinien stehen jedoch keinesfalls vordergründig in der Betrachtung. Wichtig sind die Geschichten, die sich um seine Helden ranken. Meisterhaft versteht es Rutherfurd, in seiner Erzählung das Wesen einer Epoche ebenso zu umreißen wie das Wesen der Person. Er erzählt Alltagsgeschichte und bettet diese ein in den großen historischen Rahmen, den er, sofern es die Handlung über frachten würde, auch durchaus in einigen erklärenden Bemerkungen aufbaut. So weiß der Leser auf jeder Seite, auf welchem Punkt der Zeitachse er sich gerade befindet. Etwa hundert Seiten hat Rutherfurd für eine Epoche reserviert, das ist wenig angesichts des gesamten Zeitraumes, aber durchaus ausreichend für ein treffendes Zeitbild. Obwohl er das Personal der Geschichten typisiert, übertreibt er dabei keineswegs, und so erleben wir die skurrilsten Situationen, aber auch dramatische oder poetische Augenblicke.

Der hier beschriebene Zeitraum war reich an politischen Rankünen, bei denen die Religion eine bedeutende Rolle spielte. Die politisch motivierte Loslösung von der römisch-katholischen Papstkirche führte zu immer neuen Zerwürfnissen, Richtungswechseln und Regierungsumstürzen. Mitunter mußten die Menschen innerhalb weniger Jahrzehnte mehrfach die religiöse Ausrichtung wechseln, was natürlich zu Widerständen, verborgener Glaubensausübung und schließlich zu Mord und Totschlag führte. Aber auch während dieser Zeit ging das Alltagsleben weiter, wurde gelebt und geliebt, gelacht und getrauert, geheiratet und gestorben. Das individuelle Schicksal wird getragen von den historischen Fundamenten, und genau so stellt Rutherfurd es dem Leser dar. Doch auch das Schicksal des Waldes ändert sich im Laufe der Jahrhunderte vom Wildreservoir über Holzquelle für die englische Flotte bis zum heutigen Touristenanziehungspunkt. Damit wandelt sich auch das Gesicht des New Forest, nicht nur das seiner Bewohner.

Bewundernswert ist die historische Genauigkeit Rutherfurds bis ins kleinste Detail. Er vermischt Reales und Fiktives, läßt den Leser jedoch darüber nicht im unklaren. Seine fiktiven Gestalten haben teil an historisch verbürgten Geschehnissen, und so erleben wir in Der Wald der Könige etwas abgewandelt ein Gerichtsverfahren um ein gestohlenes Spitzentüchlein, das eigentlich Jane Austens Tante betroffen hatte. Vieles ist so aberwitzig, daß es nur wahr sein kann, denn die besten Geschichten schreibt immer noch das Leben selbst


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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