Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold

Vom Mißbrauch der Dichtkunst

Alain Nadaud: Der andere Tod
Roman.
Klett-Cotta/J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachf., Stuttgart 2000, 215 S.

Der Leser dieses Buches muß nicht humanistisch gebildet sein, sollte aber ein Interesse für antike Geschichte haben. Geht es doch im Grunde, wenn auch in modernem Gewand, um Leben, Schaffen und Tod des Publius Vergilius Maro (70-19 v. Chr.), weltweit bekannt als Vergil, früher zumindest in Deutschland als Vergil, berühmt geworden als Dichter am Hofe des Gajus Octavianus Augustus (63 v. Chr.-14 n. Chr.), erster römischer Kaiser, Adoptivsohn des Julius Caesar.

„Was wir vom Leben Vergils zu wissen glauben, ist das Ergebnis einer Rekonstruktion, ähnlich wie Archäologen sie versuchen, wenn sie Bruchstücke oder lückenhafte Überreste vor sich haben.“ Diesen Satz aus einer Vergil-Biographie des Franzosen Pierre Grimal hat der Franzose Alain Nadaud seinem Roman vorangestellt. Damit ist angedeutet: Hier wird mit der Freiheit des Schriftstellers eine Rekonstruktion vorgenommen, die nicht unbedingt mit historischen Tatsachen oder wahrscheinlichen Begebenheiten übereinstimmen muß. In der Tat sind die in der Gegenwart handelnden Personen frei erfunden: ein Kulturattaché (wie der Autor Nadaud, der seit einigen Jahren den Service Culturel der Botschaft Frankreichs in Tunesien leitet) sowie Archäologen einer Grabungsstätte nahe Carthago, das wiederum nahe Tunis liegt, und zwei Pariser Journalisten.

Mit diesen Personen bestreitet der Autor eine Kriminalgeschichte. Sie ist mehr angedeutet als ausgeführt und dient als Rahmenhandlung erkennbar nur dazu, eine andere Kriminalgeschichte zu präsentieren, die sich vor reichlich zweitausend Jahren an und auf dem Mittelmeer abgespielt haben soll. In dieser Geschichte sind die handelnden Personen keineswegs erfunden. Es hat sie wirklich gegeben: Kaiser Augustus, Dichter Vergil sowie dessen Zunftkollegen Varius Rufus und Plotius Tucca, dieser weniger bedeutend als Rufus. Der war seinerseits weniger bedeutend als Vergil. Er hat die (nach herrschender Meinung guten) Taten des Augustus in Versen besungen und nach Vergils Tod dessen Aeneis überarbeitet herausgegeben, ein mythologisch-historisches Epos über jenen sagenhaften Aeneas, der nach dem Fall der Festung Troja mit seinen Gefolgsleuten nach vielen Abenteuern in Italien landet. Dort, im Latium, erkämpft er sich mit seinen Mannen eine neue Heimat und wird so zum Stammvater des späteren römischen Weltreichs, das im angeblich Goldenen Zeitalter des Augustus seine Blüte erlebte, eine blühende Sklavenhalterlandschaft.

Die Aeneis ist also ein Gegenstück zur viel früher entstandenen Odyssee des sagenhaften griechischen Autors Homer, der auch die Ilias geschrieben haben soll, Bestseller vom Kampf um Troja, nach dessen Ende der listenreiche Odysseus sich auf den aufhaltsamen Heimweg zu seiner standhaften Ehefrau machte und, heimgekehrt, alle Freier umbrachte, die ihm den Weinkeller leergetrunken hatten. Diesem Homer wollte Vergil sich mit der Aeneis zur Seite stellen, was ihm, wie man hinzufügen darf, nicht ganz gelungen ist - ein Remake ist oft schwächer als der arrivierte Vorläufer.

Der eigentliche Reiz des Romans von Nadaud liegt nicht in der Rahmenhandlung, die bei einem versierten Krimi-Autor wohl mehr professionell ausgefallen wäre. Sie dürfte hier eher eine Konzession an einen breiten Publikumsgeschmack sein, der eher nach Crime als nach Kulturgeschichte geht. Dieser Autor nun bietet beides, und das ist doch eine bemerkenswerte Idee. Die Hauptsache aber, wenn auch nicht dem Umfang nach, ist ein erfundener Briefwechsel der Herren Varius Rufus und Plotius Tucca. Aus den Briefen geht, kurz gesagt, der abscheuliche Umstand hervor, daß Imperator Augustus den Befehl gegeben hat, den Dichter Vergil durch mehrere Dosen eines hochwirksamen Pflanzengiftes zu ermorden. Die beiden Briefpartner beugen sich diesem Willen des Kaisers, weil sie sich vor den Folgen von Widerspruch oder gar Ungehorsam fürchten. Varius Rufus verabreicht auf einer Seereise dem Dichterfürsten das tödliche Pulver, das ihm Plotius Tucca zu diesem Zweck geschickt hat.

Der Briefwechsel ist das exzellente Kernstück des Romans. Zwar sind die Briefe nicht echt, aber durch Diktion und Inhalt wirken sie wie authentische Zeitzeugnisse, und als solche spielen sie denn auch in der Rahmenhandlung ihre Rolle. Vorzüglich insbesondere ist die „Rekonstruktion“ des Motivs für den Giftmord. Augustus gab ihn in Auftrag, weil er fürchtete, Vergil werde seine Aeneis vernichten, sie verbrennen oder die Kiste mit den Manuskripten ins Meer werfen, sein Werk zerstören - er hielt es für unvollkommen, historisch für ungenau und vor allem für ein Stück Personenkult. Den aber wünscht Augustus. Dafür braucht er die Aeneis.

Vergil, der in der Aeneis tatsächlich den Kaiser schmeichelhaft gepriesen und dessen zweifelhafte Herkunft bemäntelt hat, will sein Werk zerstören, weil er sich mißbraucht fühlt. Er fragt sich: Sollte ich so feige sein, daß ich mich lenken ließ? Eine Bedeutung kommt auch der Tatsache zu, daß Augustus ihm ein enteignetes Landgut wiedergegeben hat, wo er - natürlich - aufleben und fein dichten kann. Aus den Briefen erfahren wir von der Furcht der römischen Dichter und Denker, sie könnten, wenn sie sich nicht regimekonform zeigen, von einem ungnädigen Kaiser ins ferne Constanta ans Schwarze Meer verbannt werden, wie es dem berühmten Kollegen Ovid ergangen ist (dessen eindrucksvolles Standbild in der rumänischen Hafenstadt allen historischen Veränderungen getrotzt hat, also nicht zugunsten eines Standbilds des Genossen Stalin oder des Conducators Ceausescu entfernt wurde). Vergil fragt sich, von seinen eigenen Speichelleckereien angeekelt: All die Anachronismen, all die Geschichtsklitterung in der Aeneis, nur um Augustus zu gefallen?

Vergil, so die Darstellung des Romans, wollte sein Epos vernichten, weil er sich mit zunehmendem Alter, mit reifender Erkenntnis des Widerspruchs von Geist und Macht bewußt geworden war. Augustus, der schon begierig auf die Veröffentlichung wartete, wollte sich mit dem Epos schmücken, mußte also die Vernichtung des Manuskripts verhindern. In diesem Punkt wird übrigens ein eher untypisches Vorgehen geschildert: Einsatz politischer Macht, um ein genehmes Werk publizieren zu lassen, statt Machtmißbrauch, um ein unerwünschtes Geistesprodukt zu unterdrücken.

Der bis ins Detail ausgefeilte Briefwechsel verzichtet auch nicht darauf, die verlogene Argumentation der beiden Spießgesellen Rufus und Tucca wiederzugeben. Dank ihres willfährigen Handelns werde Vergil immerhin nach seinem Tod den Ehrenplatz neben Homer bekommen. Und eigentlich gehöre ein Werk wie die Aeneis selbst im noch unvollendeten Zustand schon nicht mehr dem Dichter. Überhaupt sei ein so großes Werk wichtiger als der Verfasser. Denn, so fragt Tucca seinen Rufus, was ist der Tod eines Dichters, der nur ein flüchtiger Gast auf Erden ist, gegen die Bewahrung seines Werkes! So sei hier ein vorbeugendes, also nützliches Verbrechen begangen worden. Eine meisterhafte Demagogie.

Nicht zuletzt sehen die beiden Verbrecher die einmalige Gelegenheit, Vergils nachgelassenes Epos herauszubringen und sich damit zu schmücken. Ja, mein lieber Varius, schreibt der Komplize Plotius, seien wir nicht mehr entsetzt über die Gewalt, zu der wir greifen mußten, um diese letzte, glänzende Frucht an uns zu bringen, als sie reif war, und seien wir der Billigung von Augustus gewiß.

Wer in dem Roman die kriminelle Handlung aus der Neuzeit als gefällige Verpackung akzeptiert, die ja ihren Unterhaltungswert hat, wird um so mehr die unerhörte historische Kriminalstory vom Kaiser und seinen Dichtern genießen. Dem Leser hätte ein Anhang mit gesicherten Fakten aus dem Altertum nützlich sein können. Allerdings hätte der Autor dann deutlich gemacht, wo die Wahrheit aufhört und seine Dichtung anfängt, und das ist beinahe nicht zumutbar: Ein Roman lebt von der Illusion, die er darbietet. Aktuelle Anspielungen darf jeder nach Belieben in diesem Buch finden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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