Eine Rezension von Volker Strebel

Auf Kindheits Schneide

Wulf Kirsten: Die Prinzessinnen im Krautgarten
Ammann Verlag, Zürich 2000, 237 S.

Die Erde bei Meißen lautete der Titel eines Gedichtbandes von Wulf Kirsten, der zu DDR-Zeiten als Reclam-Bändchen erschienen war und seinem Autoren unter Kennern Achtung und Anerkennung eingebracht hatte. Ein Titel, der zugleich ein poetisches Programm in sich barg, wie sich im vorliegenden Prosaband ein weiteres Mal zeigt. Leben und Landschaft der Kindheit läßt Wulf Kirsten auch in den 11 Texten wiederauferstehen, welche in dem Erzählband Die Prinzessinnen im Krautgarten vereint sind. Der konkrete Ort ist die Gemeinde Klipphausen im Landkreis Meißen.

„Ich sah wieder einmal zu, wie so oft, wie meist in jenen Jahren“, schreibt Wulf Kirsten über sich selbst, und man kann getrost ergänzen, wie er es als glänzender Lyriker, welchen genaue Beobachtung auszeichnet, bis heute tut.

„Jeder dieser Blickpunkte war ein Stück meiner Welt. Ausgeforscht bis in den hintersten Brennesselwinkel. Ausgekostet jeder fruchttragende Baum oder Strauch. Pferdeställe, Heuböden, Wagenremisen, Schirrkammern durchstöbert. Jedes Schlupfloch durch lebende Hecken und Staketenzäune gefunden. Jedem Fußpfad nachgegangen, die glitschigen Mühlwehre gequert, Koppeln, Lehmgruben, Steinbrüche samt Pulverkammern erkundet. In jedem Tümpel und Tonloch gegründelt, nahezu durch jedes Schleusenloch gekrochen.“ Der elterliche Hof, das Leben auf dem Dorf, in Wulf Kirstens Erinnerungsprosa begegnen dem Leser längst verlassene Lebensweisen. Eindrucksvoll auch der Wortschatz eines Lebens auf dem Lande, und man wird gewahr, was alles an Wissen in unserer Informationsgesellschaft verlorengegangen ist. Mit Wehmut nimmt man derlei Zeugnisse zur Kenntnis - Reminiszenzen einer untergegangenen Kultur, die geprägt war vom Mit- und Ineinander einer widerspenstigen Natur. Keinen beschönigenden Couplets eines unverdorbenen Lebens auf dem Lande wird hier das Wort geredet, Kirsten weiß, wovon er erzählt.

Biographische Erinnerungen regen Kirsten immer wieder an, das Gedächtnis seiner Kindheit zu entfalten. Längst vergessene Namen unterstreichen die Wehmut einer verlorengegangenen Zeit. „Nie kam ein Zeichen von ihm“, so endet die Erinnerung an einen damaligen Freund, Erhard Teichmann, doch auch das Gedächtnis von Wulf Kirsten hat sich ein halbes Jahrhundert auf diese Erzählungen vorbereitet.

Es scheint, als beneidet der Erzähler Wulf Kirsten die Unvoreingenommenheit seiner eigenen Kindheit, und doch kann er als Lyriker und Dichter auf diese Erfahrungen zurückgreifen. „Das den Hof umgebende Gelände war nicht minder Teil des Auslaufs, in dem ich mich frei und sicher bewegte wie in einer zusätzlichen Haut, ohne daß mich jemand daran hinderte und dabei störte.“ Hier streift Wulf Kirsten den Kern seiner Reflexionen. Die „zweite Haut“ signalisiert das tiefe Verständnis, welches Kirsten für seine Heimat entwickelt hat - ohne als Kind davon zu wissen. Das Geheimnis solcher poetischen Erinnerungen birgt sich in dieser Fähigkeit, das Vorgegebene zu transzendieren, zu überschreiten. Kirsten ist im wahrsten Sinne des Wortes in diese Landschaft hineingewachsen und hat sie zugleich verinnerlicht. Erst jetzt geben Erinnerungen nicht lediglich nur Vergangenes wieder, sondern lassen den Leser teilhaben an der Preisgabe von Geheimnissen, die jedem in der Kindheit begegnet sind und die durch ihre Bergung nichts an Aktualität verloren haben.

Und selbstverständlich bricht auch das Geschehen der großen Welt immer wieder ein in diese dörfliche Idylle. Es sind die Jahre des Krieges und die Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit, welche die Kindheit von Wulf Kirsten bestimmen. Das Grummeln der näherrückenden Front, die hastigen Absetzbewegungen einer Wehrmacht, deren Angehörige einst das ganze Europa in Furcht und Schrecken versetzt hatten, das einsetzende Flüchtlingsschicksal der Vertriebenen, die russischen Soldaten der Roten Armee samt deren begangene Greuel - nichts bleibt einer Kindheit erspart. Aber möglicherweise bieten die gespeicherten Bilder einer anderen Welt, einer Welt, welche der offen zutage tretenden zugrunde liegt, die Möglichkeit, Erinnerungen zu ertragen. Das gute Gedächtnis kann zur Last werden, doch die Lust zu beleben behält bei Wulf Kirsten immer die Oberhand. Sie ist es, welche einer Überfülle von Wahrnehmungen die notwendige Gelassenheit verliehen hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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