Eine Rezension von Ursula Reinhold

Gesellschaftskritischer Familienroman mit Tiefenschärfe

Josef Haslinger: Das Vaterspiel
Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000, 573 S.

Nachdem der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger (Jg. 1955) bereits mit Opernball (1995) ein viel beachtetes literarisches Debüt vorlegte, ist ihm jetzt mit seinem neuen Buch Das Vaterspiel ein Roman von beachtlichem literarischem Niveau gelungen. Der neue Roman stellt unter Beweis, daß allen Unkenrufen zum Trotz der Typ des Familien- und Gesellschaftsromans nicht passé, sondern durchaus geeignet ist, zeitgenössische Wirklichkeit unter die kritische Lupe zu nehmen. Das Genre erweist sich auch formal als durchaus erneuerungs- und variationsfähig. Haslinger verknüpft in seinem Roman drei verschiedene Familienschicksale, die sich an historisch und regional weit auseinander liegenden Ortschaften Europas vollzogen haben. In der Generation der Enkel kreuzen sie sich zufällig. Zusammengeführt werden sie durch den Ich-Erzähler Rubert Kramer, der dieser Enkelgeneration entstammt. Er lebt in Wien, ist der Sohn eines sozialdemokratischen Ministers, ein Versager, der seine Studien nur vorgibt, um der regelmäßigen Zahlungen des Vaters nicht verlustig zu gehen. Er verbringt seine Nächte mit Haschisch und vor dem PC und entwickelt mit Ausdauer ein Computerspiel, das die Vernichtung des Vaters in immer neuen Varianten simuliert. Als er überraschend eine Einladung nach New York bekommt, weiß er nicht genau, was ihn erwartet. Er erhofft in den USA eine Vermarktungschance für sein Vatervernichtungsspiel und erfährt sukzessive von seiner Jugendfreundin Mimi, daß er ihr helfen soll, für ihren Großonkel Lucas ein sicheres Versteck auszubauen. Schließlich wird ihm klar, daß es sich bei diesem Mann um einen gesuchten Judenmörder handelt, der von seiner Familie, den Nachfahren eines litauischen Politikers, gedeckt wird. „Einem Nazi helfen. Sonst noch etwas? Ich saß in einem Taxi und glotzte auf die Hochhäuser hinaus. Mein erster Gedanke war: Da darfst du dich nicht hineinziehen lassen. Das bist du dieser Herkunft schuldig. Großvater in Dachau, Enkel hilft seinem Peiniger. Das ist eine zu steile Karriere.“

Die Ich-Erzählung wird hier zu einem großräumigen Gesellschaftsbild der Gegenwart mit historischer Tiefenschärfe. Der Hauptstrang des Erzählens breitet die Innenansicht einer österreichischen Familie aus, erfragt, was aus der sozialistischen Tradition der Wiener Arbeiterkämpfe der 30er Jahre geworden ist, für die der Großvater im Konzentrationslager Dachau gelitten hat. Diese antifaschistische Tradition hat die politische Karriere des Sohnes, Vater des Ich-Erzählers, in Nachkriegsösterreich nur noch verbal bestimmt, als er vom Juso-Funktionär zum Verkehrsminister einer sozialdemokratischen Regierung aufstieg. Es wird der soziale Aufstieg und politisch-moralische Verfall dieser Familie anschaulich, sie wird in der Spannung zwischen dem hauptstädtischen Wien und der österreichischen Provinz mit historisch psychologischem Tiefgang ins Bild gesetzt. Dabei werden der Filz, die Korruption und Vetternwirtschaft kritisch hinterfragt, in denen die Jahrzehnte sozialdemokratischer Politik geendet haben. Die Tiefe des Verrats an einstigen Idealen, der Ausverkauf sozialistischer Ziele u. a. durch die Bereicherung an der Privatisierung des Gemeineigentums, wird nicht zuletzt an der ziellosen Indifferenz und an der Lebensunfähigkeit der Enkel-Generation deutlich gemacht, für die der Ich-Erzähler hier steht. Das Vatervernichtungsspiel erweist sich als Kehrseite autoritärer Gebundenheit, anhaltender Infantilität, Liebens- und Lebensunfähigkeit. Es ist die Metapher für den Selbstbezug einer Generation, die keine lebenswerten Zukunftsvisionen mehr kennt. Die Bereitschaft des Enkels, am Versteck des Nazi-Verbrechers mitzubauen, kennzeichnet einmal die durch die fortschreitende Zeit bewirkte Relativierung auch schlimmster Verbrechen, wird zum anderen vom Autor in der Indifferenz des eigenen Generationscharakters begründet. Kritisch distanzierend ist der Blick auf diesen Ich-Erzähler und der generationstypischen Verhaltensweisen, die hier offenbar werden.

Die kritische Bewertung wird verstärkt durch das dritte Familienschicksal, das in den Roman eingewoben ist. Es ist das Schicksal einer litauischen jüdischen Familie im Ghetto von Kovno, von der nur ein einziges Mitglied den Völkermord überlebt hat. Jonas Shtrom, der sich nach Amerika hat retten können, erkennt auf einem Foto seinen Peiniger, Lucas, den litauischen Nationalisten, der mit den deutschen Nazis kollaboriert hat und von dem er vermutet, daß er an der Vernichtung seiner Familie beteiligt war. Der Autor montiert dessen Zeugenaussagen, die an drei Tagen des Jahres 1959 zu Protokoll gegeben wurden und so seit langem Bestandteil des Archivs der Nazi-Verbrechen in Ludwigsburg sind, in die österreichische Familienhandlung. Sie unterbrechen den Handlungsfortgang und enthüllen sich dem Leser in ihrer Funktion erst sukzessive, wie dem Ich-Erzähler. Der Überlebende der Judenmassaker glaubt, seinen Peiniger auf einem Zeitungsbild entdeckt zu haben, spürt ihn schließlich auf und gibt im Jahr 1967 seine Aussagen in Washington zu Protokoll. Der Autor stützt sich bei diesen Materialien auf authentische jüdische Familienschicksale, wie sie in einem Projekt des United States Holocaust Memorial in Washington dokumentiert wurden.

Mit der Montage der protokollarischen Berichte in die Familiengeschichte der Kramers schafft der Autor ein mosaikartiges Panorama historischer Vorgänge um Familienschicksale an verschiedenen Orten im Europa der dreißiger Jahre. Innerhalb des historischen Horizonts veranschaulicht er in Verfall und Zusammenhalt von Familien die Problematik von Generationsabfolgen, von Traditionsbruch und Traditionsbindung.

Die erzählerische Vergegenwärtigung dieses historischen Geschehens geschieht durch die überraschenden E-Mails aus New York, der Rubert Kramer folgt. Ratz, wie der Ich-Erzähler wegen seines Rattengesichts genannt wird, bricht aus seinem desaströsen Dasein auf, unternimmt bei dichtem Schneesturm eine abenteuerliche Autofahrt bis nach Frankfurt am Main, um einen Flieger nach New York zu bekommen. Langsam erfährt er Mimis Anliegen, erhält Einblicke in ihre Lebensverhältnisse, in denen es für ihn keinen Platz gibt. Er begräbt die Illusion einer Liebesbeziehung zu ihr, sieht aber die Möglichkeit, sein PC-Spiel zu vermarkten, wobei die Ergebnisse nicht so sind, wie er es sich erwartet hatte. Er lernt Lucas als einen eigenwilligen, aber nicht unfreundlichen Mann kennen, bezweifelt, daß der ein Mörder sein kann, und muß sich von den Protokollen, in die der ihm selbst Einblicke gewährt, doch vom Gegenteil überzeugen lassen. Mit dieser Konstellation gelingt es dem Autor, eine anhaltende Spannung aufzubauen, deren Bögen die verschiedenen historischen Ebenen erzählerisch mit der Gegenwart verknüpfen. Zugleich werden die geschichtlichen Ereignisse der dreißiger und vierziger Jahre als in die zeitgenössische Wirklichkeit hineinragend dargestellt. Die fortlaufende Handlung, die in der Gegenwart spielt, läßt die österreichischen Verhältnisse der endneunziger Jahre aufscheinen und wirft ein Licht auf gesellschaftliche Tatbestände, die für viele Österreicher einen Jörg Haider wählbar gemacht haben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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