Eine Rezension von Kathrin Chod

Verführung und Verzweiflung

Finn Jor: Sören und Regine
Kierkegaard und seine unerfüllte Liebe.
Piper Verlag, München 2000, 303 S.

Es ist Herbst im Kopenhagen des Jahres 1896. Die dunkle Jahreszeit beginnt, in der die Sonne, wenn sie noch scheint, tief am Himmel steht. Die Tage werden immer kürzer, und Melancholie und Trauer drücken bisweilen auf die Stimmung. An solchen Tagen denkt Frau Olsen über ihr Leben nach. Wenn sie zurückschaut auf ihre 75 Lebensjahre, dann nicht auf ihre Kindheit oder auf ihre Ehe mit dem soliden, tüchtigen Beamten Fritz. Wenn Regine Olsen auf ihr Leben blickt, dann denkt sie an Sören Kierkegaard.

Regine ist 14 Jahre alt, als sie den Studenten Kierkegaard das erste Mal trifft. Ganz Kopenhagen kennt den exzentrischen Theologiestudenten aus reichem Hause. Auch Regine kommt aus einer gutbürgerlichen Familie. Man trifft sich in diesen Kreisen zu Gesellschaften, und so fällt es auch nicht auf, daß Kierkegaard immer häufiger die Hauskonzerte bei Etatsrat Olsen besucht. Als Regine 18 wird, bittet Sören ihren Vater um die Hand des jungen Mädchens, und sie genießt die Aufmerksamkeit, die ihre Verlobung mit dem 27jährigen Studenten auslöst. Zunehmend gefällt er ihr besser, und langsam entwickelt sich neben der Bewunderung eine tiefe Liebe. Aber Sören Kierkegaard hat zwei Seiten. Alle Welt kennt den glänzenden Gesellschafter und geistreichen Plauderer. Regine sollte auch sein zweites Gesicht erblicken, seine tiefe Verzweiflung, seine Furcht und sein Selbstmitleid. Später sagt er, daß sie die einzige war, die ihn je hat weinen sehen. Er erzählt dem jungen Mädchen von der schweren Sündenlast, die er glaubt tragen zu müssen, und seiner schmerzhaften Reue: Sein Vater habe einst Gott verflucht, und der Preis dafür werde das Auslöschen der ganzen Sippe sein. Fünf der sechs Geschwister Sören Kierkegaards starben, ehe sie das vierunddreißigste Lebensjahr vollendet hatten, und so rechnet auch er mit seinem baldigen Tod. Unter dieser Zwangsvorstellung glaubt Kierkegaard, seine Liebe opfern zu müssen. Er möchte Regine ersparen, schon jung Witwe zu werden, und drängt sie, die Verlobung zu lösen. Sie ist jedoch nicht gewillt, so schnell aufzugeben. Erst als er in Kopenhagen verbreitet, daß er ihrer überdrüssig sei, gibt sie auf Drängen der Familie nach. Nur glücklich wird sie damit natürlich nicht. Sören Kierkegaard bleibt der Mittelpunkt, der Inhalt ihres Lebens. In einer Stadt wie Kopenhagen macht es keine große Mühe, ihn im Auge zu behalten. Immer wieder streift sie durch die Stadt, um ihn - wenn auch nur flüchtig - zu sehen. Doch nie wieder sollte sie ein Wort mit ihm wechseln, und nie wieder würde sie einen Brief von ihm erhalten. Dafür schickt der Philosoph und Schriftsteller ihr seine Werke. Regine entdeckt in jedem sich selbst und ihre Beziehung wieder. So in „Entweder - Oder“, wo er in einem Kapitel Marie Beaumarchais (Clavigo) die Worte in den Mund legt: „Er war kein Betrüger: Was ihn von mir riß, weiß ich nicht. Ich kenne diese finstere Macht nicht, aber was ihn verletzte, verletzte ihn zutiefst; er wollte mich in seinen Schmerz nicht einweihen, deshalb spielte er den Betrüger.“ Im „Tagebuch eines Verführers“ erweckt Sören Kierkegaard den Eindruck, als sei er der zynische Verführer Johannes und sie das Opfer Cordelia. In „Furcht und Zittern“ scheint er sich mit Abraham zu vergleichen, dem Gott befahl, seinen einzigen Sohn Isaak zu opfern. Analog dazu deutet Regine die Schrift, daß auch Kierkegaard meint, aller Vernunft und Liebe zum Trotz dem „Auftrag“ folgen zu müssen, seine Liebe zu opfern. Und ihre Schlüsse sind keine Hirngespinste.

Wie verbunden Kierkegaard ihr tatsächlich blieb, erfährt sie jedoch erst, nachdem er 42jährig starb: Auch Kierkegaard ließ sich über jeden ihrer Schritte informieren. Er vermacht ihr seine Hinterlassenschaft - „so, als sei ich mit ihr verheiratet gewesen“. Im „Gesichtspunkt für meine schriftstellerische Tätigkeit“, der aus dem Nachlaß veröffentlicht wurde, kann sie dann lesen, was für ihn Trost war: „Die Erinnerung an überstandene Leiden, das Wissen, daß er sich und seiner ersten Liebe, mit der er nur das liebte, was auf dieser Welt gelitten hat, treu geblieben war.“ Schließlich erfährt sie von ihrem Ehemann, daß Kierkegaard ihr sein gesamtes Werk widmen wollte und dies ihr Mann abgelehnt hatte. So widmete er es einer „Ungenannten, deren Name einst erwähnt werden wird“.

Finn Jor ist mit diesem tatsachengetreuen Roman ein Meisterstück gelungen. Er läßt 1896 Regine Olsen einem vertrauten Mädchen ihre Liebesgeschichte erzählen. Und er umgeht die Klippen, die bei einer derartigen Erzählweise entstehen, souverän. Weder rutscht das Geschehen ins Sentimentale ab, noch überfrachtet er es mit philosophischen Erörterungen. Für diejenigen, die Kierkegaard kennen, ist die Geschichte ein Gewinn, da sie sein Werk aus seinem Leben zu deuten hilft. Aber selbst für jemanden, der bislang nie ein Buch des dänischen Philosophen zur Hand nahm, ist es der Roman einer außergewöhnlichen wie tragischen Liebe.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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