Eine Rezension von Rulo Melchert

„... ich möchte, daß die Seiten wie Spiegel sind.“

António Lobo Antunes: Die Rückkehr der Karavellen
Roman.
Aus dem Portugiesischen von Meralde Meyer-Minnemann. Mit
einem Vorwort von Ilse Pollack.
Luchterhand Literaturverlag, München 2000, 288 S.

Ders.: Der Tod des Carlos Gardel
Roman.
Aus dem Portugiesischen von Meralde Meyer-Minnemann.
Luchterhand Literaturverlag, München 2000, 448 S.

António Lobo Antunes, 1942 als Sohn eines Arztes in Lissabon geboren, Militärarzt in Angola, Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus, lebt heute als freier Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Weltweit mit einem Werk bekannt, das mittlerweile 13 Titel umfaßt, hochgeehrt und von der Kritik enthusiastisch gefeiert, hat immer noch Angst davor, ein schlechtes Buch zu schreiben, die Leute zu enttäuschen, „die auf eine Art an mich glauben, die ich selber nicht habe“, wie er in einem Interview mit Alexandra Lucas Coelho gesteht. Es ist, daß die Angst des Schöpferischen, die vielleicht aufhört, wenn das Buch fertig geschrieben ist, an dem man arbeitet, aber auch dann oft nicht nachläßt, ein Dauerbegleiter aller Schreibenden bleibt, von dem sie ein Lied zu singen wissen. Es ist ja auch etwas Vertracktes mit dem Finden einer Geschichte, die sich zu einem Roman ausspinnt. Lobo Antunes beschreibt das am Beispiel eines Knopfes, den er auf der Straße findet, er machte sich dann auf die Suche nach dem passenden Anzug dazu. „Die Geschichte, der Handlungsstrang“, sagt er, „sind nur der Nagel, an dem man die Prosa aufhängt. Was mich viel mehr interessiert, ist die Arbeit mit den Wörtern, mit dem Text ... ich möchte, daß die Seiten wie Spiegel sind ...“ In seinen ersten Büchern, so Lobo Antunes, habe er fast alles gewußt, er habe beim Schreiben einen minutiösen Plan gehabt. Dieses Verfahren sei jetzt aufgegeben. Er wisse die Anzahl der Kapitel, die Namen der Hauptfiguren, aber er sehe sie nie physisch, Beschreibungen dieser Art fänden sich in seinen Büchern nicht. Es gehe ihm um etwas anderes: „... meine letzten Bücher haben eine symphonische Struktur, und die Figuren werden verwendet wie Instrumente, denn ich denke, daß sich alle Künste auf die Musik zu bewegen ... Die Sprache nähert sich viel stärker der musikalischen Sprache und den Emotionen, den Affekten.“ Und, sich auf Tolstoi berufend, der die Stimmigkeit eines Bildes nicht preisgeben wollte für die Versuchung einer verbalen Pirouette, fährt Lobo Antunes fort: „Daß der Roman eine Art Maschine sein soll, die uns berührt, wie man es von der Musik Bachs sagt, die uns unerbittlich mitnimmt und festhält, ob wir wollen oder nicht, nicht wahr? Es geht darum, daß wir lesen und die Arbeit dahinter nicht spüren. Ein gutes Buch soll wie Wasser sein.“ Äußerungen von Schriftstellern über sich selbst soll man nicht überbewerten, aber zur Kenntnis nehmen sollte man sie schon, liegen ihnen doch Schreibintentionen und -erfahrungen zugrunde, die ein bißchen was von dem Geheimnis des Schreibens preisgeben können.

Der Roman Die Rückkehr der Karavellen erschien bereits 1988 - unter dem Titel As Naus - in Lissabon. Vielleicht ist es gut, daß er erst jetzt deutsch vorliegt, nach Vorbereitung durch die anderen Romane, von Das Handbuch der Inquisitoren bis Anweisungen an die Krokodile, wir haben uns ein bißchen einlesen können in Geschichte und Gegenwart Portugals. Geht es doch um nicht mehr und nicht weniger als um das „Ende des imperialen Mythos“, wie Ilse Pollack im Vorwort schreibt, einem Mythos, den das Zeitalter der Entdeckungen aufgebaut hatte und der bis 1974/75 ungebrochen galt, bis zur Nelkenrevolution und der Unabhängigkeitserklärung der portugiesischen Kolonien. Etwas Unerhörtes und Niegeglaubtes geschieht, der überstürzte Abzug der Truppen und Beamten aus Angola, einer Flucht gleich, aus Angst vor dem Kommunismus, den Russen, den Kubanern, der MPLA, der UNITA und vor den Wilden, wie die Afrikaner genannt werden. Jetzt ist man in Lissabon, in der Heimat, die viele vorher jahrelang nicht oder noch nie gesehen haben, ein bunter Haufen, entwurzelt und der Selbstzerstörung preisgegeben. Lobo Antunes führt sie alle vor, auf dem Schiff noch, in der Stadt, die er Lixboa nennt, in der Pension „Apóstolo das Indias“, wo es nach Schlaflosigkeit und Fußschweiß riecht, dem Viehstallgeruch der Armut, alle die Helden Portugals, die mit jenem Mythos verbunden sind und die jetzt die Unhelden sind. Da ist der Mann namens Luis, Luís Vaz de Camoes, mit dem Sarg des Vaters ist er auf das Schiff gekommen, da sind Miguel de Cervantes Saavedra, der Losverkäufer in Moçambique war, und der Rentner Vasco da Gama, ein schönes Trio. Die Herren, als es ihnen zu langweilig wird, ziehen den Sarg unterm Bett hervor und spielen darauf ein Spielchen Karten. Es ist wahr und ist auch nicht wahr. Lobo Antunes gibt seinen Romanfiguren die Namen von Berühmtheiten der portugiesischen Geschichte und Literatur, er stattet sie aus mit deren Vergangenheit und läßt sie in der Gegenwart herumtappen, als wären sie immer noch dabei, ihre großen Leistungen zu vollbringen, das Nationalepos „Die Lusiaden“ zu schreiben oder den Seeweg nach Indien zu finden. Eine große Vermischung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft findet statt, eine Bewegung entsteht, die aber nicht nach rückwärts verläuft, sondern auf die Gegenwart zu, die den Schriftsteller Lobo Antunes einzig interessiert. Es ist das nicht schlechthin ein erzählerisches Verfahren, sondern Ausdruck einer grundsätzlichen Sicht auf die Welt, die er in Afrika gelernt habe: „An dem Ort, an dem ich war, am Ende der Welt, einem fast verlassenen Ort ohne Vegetation, mit Sand und einer schrecklichen Nachtkälte“, sagt Lobo Antunes. Für die Menschen dort sei Zeit „eine unendlich elastische Gegenwart, die alles enthielt“, gewesen. So hält es nun auch der Erzähler und führt uns das großartig in seinem Roman „Die Rückkehr der Karavellen“ vor, einem Meisterwerk vermischter Erzählebenen, Figuren und Handlungen, vermischter Realität und Phantasie. Francisco Xavier, Pedro Àlvares Cabral, Diego Cao, Manoel de Sousa de Sepúlveda, Garcia da Orta und mancher andere - am besten, man macht sich vor dem Lesen im angehängten Glossar ein wenig kundig -, sie alle irren durch diese Stadt, kaum einer, der Erfolg hat und zu neuem Reichtum kommt, die meisten auf der Suche nach Halt, in Erinnerungen verfangen, in Nachtklubs und Kneipen zu Hause, schließlich gar in einem Krankenhaus für Verrückte eingesperrt und auf ihren Geisteszustand untersucht. In der Tat, es sind verrückte Geschichten, die Lobo Antunes zu erzählen weiß, von Menschen, die aus der Bahn geworfen sind, Gestrandete, Schiffbrüchige, wie seinerzeit Bernardo Gomes de Brito sie in seinen „Portugiesischen Schiffbrüchigen-Berichten“ 1552-1602 beschrieb - ein wichtiger Untertext für Die Rückkehr der Karavellen. Sie alle klammern sich an die kläglichen Reste ihrer Vergangenheit und glauben immer noch, eines Tages werde der junge König Sebastiao, der in der Schlacht von Alcácer Quibir im Jahre 1578 starb, aus dem Meere wiederkehren, zu Pferde und mit seinen Wunden von Messerstichen in den Schultern und im Bauch. Die Rückkehr der Karavellen ist kein leichtes Buch, die Geschichten, die der Roman erzählt, erschließen sich aber mit dem Lesen, die poetischen Bilder beginnen zu leben, die Sprache zeigt sich noch in der Übersetzung in ihrer ganzen Eigenart und Mächtigkeit, ein großer Erzähler stellt sich unumwunden vor.

Ist Die Rückkehr der Karavellen eine große Sinfonie zu nennen, so Der Tod des Carlos Gardel eine Kammermusik, die mit weniger Instrumenten aufgeführt wird, ein leiserer Ton wird angeschlagen. Alles gruppiert sich nicht, wie der Titel suggeriert, um den Tod jenes legendären argentinischen Tango-Sängers Carlos Gardel, sondern um dieses Kind Nuno, das weder bei seiner Mutter Claudia noch bei seinem Vater Alvaro die Liebe findet, die es suchte und zum Leben brauchte, ohne drogensüchtig zu werden. Der Roman ist in Stimmen geschrieben, die schweigen oder rufen, Stimmen der Erinnerung, Stimmen von Menschen, die miteinander oder auch gegeneinander reden, man weiß nicht immer, welches Ich gerade spricht. Diese Technik, von Lobo Antunes auch in anderen Romanen benutzt, ist hier perfekt ausgefeilt. Sie ist kein Selbstzweck oder Ausdruck einer vordergründigen Modernität, sondern drückt auf andere Art das aus, was wir oben die Vermischung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nannten, in einem Gleichgewicht von menschlichen Schicksalen, das Wiederholte, Allgemeine, das Leben per se. Eine Familie steht vor uns, in der niemals jemand jemanden braucht, auch wenn die Gruppierung im Krankenhaus um das Bett des sterbenden Nuno etwas anderes vermuten läßt. Es ist der Schein, den Lobo Antunes von allem wegzieht. Claudia, die fragt: „Was ist das überhaupt für ein Leben?“, ist die einzige, die sich frei macht, ein Flugticket bringt sie nach Deutschland, mit Portugal ist für sie Schluß, sie will nicht zurückkehren. Die anderen bleiben, leben ihr kleines Leben weiter, auch nach dem Tod Nunos, sie vergessen, was sie hätten sein können und nicht gewesen sind. So Alvaro, der sich von seiner Frau scheiden läßt und jetzt mit Raquel zusammenlebt. Er, der Anzeigendoktor, ein Herr mit Festgeldkonto auf der Bank, lernt zufällig den alten Seixas kennen, der mit seiner Partnerin über viele Jahre als der portugiesische Gardel in Kabaretts auftrat, jetzt aber ohne Arbeit ist. Alvaro bildet sich ein, den noch lebenden Gardel getroffen zu haben, ohne Widerrede geht er dem Alten nach, schleppt ihn durch Kneipen und zuletzt zu sich nach Hause, er will nicht an den Tod Gardels glauben: „Leute wie Sie, mein Freund, sind unsterblich, die hören nicht auf, die werden weiterleben, so lange es auf der Erde jemanden gibt, der sie schätzt ...“ Eine Identifikation findet statt, die bis zur Menschenverachtung geht. Der tote Sohn ist längst vergessen, ein Neuanfang von Leben, den sich Raquel einredet, steht nicht zur Diskussion. Als Alvaro mitgeteilt wird, Raquel sei schwanger, fragt er, ob das ein Witz sein soll. Für Alvaro ist es wichtiger, daß Seixas Carlos Gardel persönlich ist, als daß er sieht, wie es um ihn und seine Familie wirklich steht. Erst ganz am Ende, als er von der hochschwangeren Raquel fortgegangen ist, begreift er, daß Carlos Gardel tot ist. Das ist der gutgemeinte Versuch, ihn aus der Irrealität seiner Fluchtwelt zu retten und ihm ein klein wenig eigene Bewegungsfreiheit wiederzugeben. Traten die historischen Figuren, die Helden der portugiesischen Geschichte in „Die Rückkehr der Karavellen“, tatsächlich vor uns hin, in all ihrem Glanz und ihrer heruntergekommenen Schäbigkeit, so ist die Figur des Argentiniers Gardel nur eine Fiktion, leitmotivisch durchzieht seine Musik den Roman. Die Kapitel haben Namen seiner Kompositionen und Lieder - „Por una cabeza“, „Milonga sentimental“, Lejana tierra mia“, „El dia que me quieras“, „Melodía de Arabal“ -, und die Begeisterung für Carlos Gardel teilen auch andere Romanfiguren. Und vielleicht ist es wirklich so, daß man beim Gesang Gardels endlich den Sinn der Dinge begreift, klar, perfekt, genau, leuchtend, oder, wie Raquel sagt, daß man noch einmal sein Leben neu anfangen könnte, „trotz der Toten und des Alters und der Wunden der Zeit, solange es ein Akkordeon und ein Klavier und eine Violine und Carlos Gardel auf dem Plattenteller gibt und er eine Milonga für uns singt“. Immer wieder ist es die Parallelität der Ereignisse, die im Moment geschehen oder erinnert werden, die dieses Erzählen aufregend macht, und sind es die verschiedenen Perspektiven, der mehrmals erzählte Tod Nuños. Am Schluß ergibt sich aber ein in sich Geschlossenes, fest Zusammengefügtes, der Roman eines großen Erzählers, die Textarbeit eines der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart, ein Portugiese, der Weltliteratur schreibt, wie selbstverständlich.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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