Wiedergelesen von Eberhard Fromm

Elias Canetti: Masse und Macht
Düsseldorf 1960

Die deutschsprachigen Literaturnobelpreisträger (10)

„Canetti hat mich sofort beeindruckt ... Der kleine, wohlbeleibte und dennoch nicht schwerfällige Herr erwies und bewährte sich als anmutiger, als vorzüglicher Causeur. Seine Souveränität war authentisch, doch der Hauch eines dezenten Komödiantentums ließ sich nicht verkennen. Dazu mag beigetragen haben, daß sein Deutsch vom schönsten österreichischen Tonfall geprägt war.“ So beschreibt Marcel Reich-Ranicki in seinem Buch Mein Leben Elias Canetti, den er 1964 in dessen im Stadtteil Hampstead gelegenen bescheidenen Londoner Wohnung besucht hatte.

Beeindruckend für jeden Leser ist aber wohl an Canetti vor allem seine schriftstellerische Leistung: Vom Roman über das Theater und autobiographische Schriften bis hin zur wissenschaftlichen Untersuchung hat er die unterschiedlichsten Gebiete für sich entdeckt und mit Leistungen aufgewartet, die weltweite Anerkennung gefunden haben.

Und noch etwas muß hervorgehoben werden: Der mehrsprachig aufgewachsene Elias - in der Familie sprach man spanisch, auf der Straße bulgarisch, das Türkische war nicht fremd, Englisch und Französisch kamen früh dazu - entschied sich für die deutsche Sprache, die er erst mit acht Jahren zu erlernen begann. Mit welchen Konsequenzen seine Mutter ihn zwang, die deutsche Sprache zu erlernen, beschrieb er in seiner Autobiographie Die gerettete Zunge: „So zwang sie mich in kürzester Zeit zu einer Leistung, die über die Kräfte jedes Kindes ging, und daß es gelang, hat die tiefere Natur meines Deutsch bestimmt, es war eine spät und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Muttersprache.“ Und durch alle Wirren der Zeit und des persönlichen Lebens blieb er dieser Sprache treu. So notierte er 1944: „Die Sprache meines Geistes wird die deutsche bleiben, und zwar weil ich Jude bin. Was von dem auf jede Weise verheerten Land übrig bleibt, will ich als Jude in mir behüten.“ Und 1959 stellte er für sich fest: „Zuhause fühle ich mich, wenn ich mit dem Bleistift in der Hand deutsche Wörter niederschreibe und alles um mich herum spricht englisch.“

So wurde denn aus dem in Bulgarien geborenen Jungen, dessen Familie türkische Staatsangehörige waren und der die längste Zeit seines Lebens in England gelebt hat, ein deutschsprachiger Schriftsteller, der mit dieser seiner Sprache sprachgewaltig und zugleich filigran umging wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen.

Elias Canetti hat eine dreibändige Autobiographie verfaßt und eine Reihe von Büchern mit persönlichen Aufzeichnungen aus allen seinen Lebensabschnitten veröffentlicht. Da könnte man meinen, das Leben dieses Mannes liege wie ein offenes Buch vor uns und der Nachlaß, der noch bis 2024 geschlossen bleibt, werde kaum Neues bringen. Doch weit gefehlt: Es sind eigentlich nur die frühen Kindheits- und Jugenderinnerungen, die recht dicht aus dem eigenen Leben erzählen. Je erwachsener Canetti wurde, desto mehr richtete sich sein Interesse auf seine Zeitgenossen, auf die Zeit und ihre Probleme. Darüber reflektierte er; die eigene Persönlichkeit, das private Leben traten immer mehr zurück. Die überlieferten Notizen seit den vierziger Jahren beschäftigen sich mehr mit seinen Denkprozessen denn mit der Wirklichkeit.

So werden denn wohl künftige gründliche Biographien noch vieles an dieser Persönlichkeit zu entdecken haben.

Elias Canetti wurde am 25. Juli 1905 in Rustschuk in Nordbulgarien geboren. Beide Elternteile stammten aus angesehenen Spaniolenfamilien, jenen jüdischen Flüchtlingen, die vor langer Zeit aus Spanien in die verschiedensten Gebiete Europas ausgewandert waren. Die Familie des Vaters Jacques Canetti kam aus Adrianopel in der Türkei nach Bulgarien, wo die alteingesessene und wohlhabende Familie der Mutter Mathilde Arditti lebte. Die beiden lernten sich beim Schulbesuch in Wien kennen und lieben. 1911 zog die Familie - neben Elias gab es noch zwei jüngere Brüder Nissim und Georg - nach England. Nach dem frühen Tod des Vaters 1912 verließ die Mutter mit ihren drei Kindern England und kam über Paris und Lausanne nach Wien.

1916 übersiedelte die Familie in die neutrale Schweiz. Hier verlebte Canetti - vor allem in der Pension Yalta in Tiefenbrunn - nach eigener Aussage vollkommen glückliche Jahre, die er später als sein Paradies bezeichnete. Als die Mutter sich 1921 entschloß, nach Frankfurt am Main zu ziehen, empfand Elias das als eine Vertreibung aus dem Paradies. „Die einzig vollkommen glücklichen Jahre, das Paradies in Zürich, waren zu Ende ... Es ist wahr, daß ich, wie der früheste Mensch, durch die Vertreibung aus dem Paradies erst entstand.“ Seit 1924 war Canetti zusammen mit seinem Bruder wieder in Wien. Er begann ein Chemiestudium, das ihn zwar nie ganz ausfüllte, das er jedoch diszipliniert bis zum Ende durchhielt und sogar 1929 mit der Promotion abschloß.

In diesen Jahren des Studiums lernte er seine spätere Frau Veza Taubner-Calderon (1897-1963) kennen, die ebenfalls aus einer Spaniolenfamilie stammte. Familiär kam es zu einer inneren Trennung von der Mutter, die in Paris lebte. Und er wurde zu einem begeisterten Anhänger von Karl Kraus (1874-1936). Immer stärker befaßte er sich mit literarischen Arbeiten und begann an dem Roman „Die Blendung“ zu arbeiten, den er 1931 beendete, aber erst 1935 veröffentlichte.

1928 und 1929 weilte er jeweils für einige Monate in Berlin, wo er im Malik-Verlag von Wieland Herzfelde arbeitete. In dieser Zeit lernte er eine Reihe von Persönlichkeiten des Berliner literarischen Lebens kennen, so Bert Brecht und John Heartfield, Georg Grosz und Leonhard Frank. Großen Eindruck machte auf ihn Isaak Babel, der sich einige Zeit in Berlin aufhielt. „Ich weiß, daß Berlin mich wie eine Lauge zerfressen hätte, wenn ich ihm nicht begegnet wäre“, schrieb er in seinen Erinnerungen. Denn Berlin erlebte er als das ganze Gegenteil von Wien. „Man mochte aus einer alten Hauptstadt wie Wien kommen, hier fühlte man sich als Provinzler und riß die Augen weit auf, bis sie sich daran gewöhnten, offenzubleiben. Es war etwas Scharfes, Ätzendes in der Atmosphäre, das einen reizte und belebte.“ Symptomatisch war für ihn die Premiere der Dreigroschenoper von Brecht und Weill, die er miterlebte. Er sah sie als eine kalt berechnete, raffinierte Aufführung, in der Berlin seinen genauesten Ausdruck fand: „Die Leute jubelten sich zu, das waren sie selbst, und sie gefielen sich. Erst kam ihr Fressen, dann kam ihre Moral, besser hätte es keiner von ihnen sagen können, das nahmen sie wörtlich ... Die schrille und nackte Selbstzufriedenheit, die sich von dieser Aufführung ausbreitete, mag nur glauben, wer sie erlebt hat.“

Wieder in Wien, entstanden in den nächsten Jahren Theaterstücke wie „Die Hochzeit“ und die „Komödie der Eitelkeiten“. 1935 heiratete er Veza Taubner-Calderon. Eine besonders tiefe Enttäuschung erlebte er mit seinem langjährigen Idol Karl Kraus, der sich nach den Wiener bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Februar 1934 für Dollfuß erklärt hatte.

Wie Canetti sich später erinnerte, war es „die tiefste Enttäuschung an einem großen Geiste, die ich in meinen dreißig Jahren je erlebt hatte, eine Wunde, so schwer, daß sie auch in weiteren dreißig Jahren nicht heilen würde. Es gibt Wunden, die man bis zum Tod mit sich herumträgt, und alles, was man tun kann, ist, sie vor den Augen anderer zuzudecken.“ 1938 emigrierte er über Paris nach London, wo er bis Ende der 80er Jahre lebte.

1939 begann er mit intensiven Studien zu einem Thema, das ihn bereits seit dem Tode Walther Rathenaus immer wieder beschäftigt hatte: das Problem der Masse. Zugleich beobachtete er aufmerksam das Geschehen in der vom Krieg zerissenen Welt und gelangte Schritt für Schritt zu immer pessimistischeren Ansichten vom Leben, vom Menschen und von der menschlichen Gesellschaft. „In Deutschland ist alles geschehen, was es an historischen Möglichkeiten noch im Menschen gibt“, urteilte er über die unfaßbaren Greueltaten, die gegen Kriegsende immer offensichtlicher wurden. „Unserer Generation war es vorbehalten zu erfahren, daß alle besseren Bemühungen der Menschheit vergeblich sind. Das Schlechte, sagen die deutschen Ereignisse, ist das Leben selbst.“ Und als die USA im August 1945 in Japan die Atombombe einsetzten, war für Canetti der „Traum von der Unsterblichkeit“ zerschlagen. Bang fragte er, was die Erde mit dieser neuen Mündigkeit anfangen werde, da die Atombombe das Maß aller Dinge geworden sei.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte er die Studien zu seinem großen Werk Masse und Macht fort, das dann 1960 erschien. Aber auch der Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch sowie verschiedene Aufsätze, Essays und Aufzeichnungen fanden in der literarischen Öffentlichkeit immer mehr Anerkennung. Das erreichte dann mit der dreibändigen Autobiographie Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend, Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte von 1921 bis 1931 sowie Das Augenspiel. Lebensgeschichte von 1931 bis 1937 seinen Höhepunkt.

Seine Frau Veza erlebte diese Berühmtheit nicht mehr; sie starb 1963. Canetti heiratete 1971 Hera Buschor. 1972 wurde ihre Tochter Johanna geboren. Das war bereits zu einer Zeit, da öffentliche Ehrungen fast an der Tagesordnung waren: Auf den Großen Österreichischen Staatspreis (1968) und den Literaturpreis der Bayrischen Akademie der Schönen Künste (1969) folgten unter anderem der Büchnerpreis (1972), der Nelly-Sachs-Preis (1975), der Gottfried-Keller-Preis (1977), der Johann-Peter-Hebel-Preis (1980) und der Kafka-Preis (1981). 1979 erfolgte die Aufnahme in den Orden „Pour le Mérite“ und 1983 wurde ihm das Große Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik verliehen. Den Höhepunkt dieser massiven Auszeichnungen bildete natürlich 1981 die Verleihung des Nobelpreises für Literatur.

In seinen letzten Lebensjahren hielt sich Canetti vorwiegend in Wien auf. Er starb am 14. August 1994.

Canettis Wirkung gerade seit dem Ende der sechziger Jahre hängt sicher mit dem Zeitgeist dieser bewegten Jahre zusammen. Canetti bejahte das Leben, er genoß es, behielt sich aber stets eine distanzierte und zunehmend pessimistische Grundeinstellung vor.

„Ich kann es nicht erklären, warum bei mir ein klares Empfinden für die Schlechtigkeit dieses Lebens mit einer immer wachen Leidenschaft dafür Hand in Hand geht“, schrieb er ganz in diesem Sinne, oder auch: „Es gibt wenig Schlechtes, was ich vom Menschen wie der Menschheit nicht zu sagen hätte. Und doch ist mein Stolz auf sie noch immer so groß, daß ich nur eines wirklich hasse: ihren Feind, den Tod.“ Der Mensch sei trotz der angesammelten Weisheit all seiner Vorfahren ein rechter Dummkopf geblieben und die Kernfrage aller Ethik bestünde darin, ob man den Menschen sagen solle, wie schlecht sie sind oder sie in ihrer Unschuld schlecht sein lassen soll. Beinahe zynisch klingt sein Vorschlag: „Das schönste Standbild des Menschen wäre ein Pferd, wenn es ihn abgeworfen hätte.“

Seit das Menschenleben nicht mehr das Maß aller Dinge sei, gebe es für nichts mehr ein Maß, ist die pessimistische Grundaussage des Schriftstellers, der resümierend meint, daß alle Pessimismen der Menschheitsgeschichte zusammengenommen nichts gegen die Wirklichkeit wiegen. So ist das Selbstbildnis nur zu verständlich, das Canetti von sich als einem Menschen seines geschlagenen Jahrhunderts zeichnet: „Es gibt eine Klagemauer der Menschheit, und an dieser stehe ich.“

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Das Buch Masse und Macht hat eine lange Geschichte. Als Canetti 1959 notiert, daß das Manuskript nach Hamburg an den Verlag abgegangen sei, erinnerte er sich an die Anfänge: „1925, vor vierunddreißig Jahren, hatte ich den ersten Gedanken zu einem Buch über die Masse. Aber der wirkliche Keim dazu war noch früher: eine Arbeiterdemonstration in Frankfurt anläßlich des Todes von Rathenau, ich war siebzehn Jahre alt.“ Wenn Canetti immer wieder auf das Jahr 1925 zu sprechen kommt, wenn es um seine Beschäftigung mit dem Problem der Masse geht, dann deshalb, weil ihm in diesem Jahr eine Art Erleuchtung kam, daß es nämlich einen „Massentrieb“ geben müsse, der mit dem „Persönlichkeitstrieb“ im Widerstreit liege und aus deren Streit sich die ganze Menschheitsgeschichte erklären lasse. So wurde denn die Erklärung der Masse - und seit den frühen dreißiger Jahren dazu die Frage, wie Macht aus Masse entsteht - zu einer Grundfrage des Forschens für den Schriftsteller. „Ich wollte wissen, was es eigentlich war. Es war ein Rätsel, das mich nicht mehr losließ, es hat mich den besten Teil meines Lebens verfolgt, und wenn ich auch schließlich auf einiges gekommen bin, so ist nicht weniger rätselhaft geblieben.“

Nach solchen intensiven Hinweisen des Autors geht man als Leser natürlich mit hohen Erwartungen an das Buch Masse und Macht heran. Man erwartet Lösungen, Antworten auf Entwicklungen in unserem Jahrhundert, man ist neugierig, zu welchen neuartigen Ergebnissen eine Analyse gelangt, die vom Ansatz „Masse“ aus die Geschichte betrachtet.

Um es vorweg zu nehmen: So richtig befriedigen können einen die Antworten nicht. Wenn ein Kritiker nach Erscheinen des Buches 1960 schrieb, man dürfe nunmehr bei dem Begriff Macht nicht mehr zuerst an Friedrich Nietzsche (1844-1900) und bei dem Begriff Masse nicht mehr zuerst an Gustave Le Bon (1841-1931) und José Ortega y Gasset (1883-1955) denken, sondern an Elias Canetti, dann dürfte er wohl leicht übertrieben haben. Denn das Herangehen Canettis an diese wesentlichen Kategorien der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Sozialpsychologie, sicher auch der Ethnologie und Psychoanalyse ist eben nur von einer Sicht geprägt. Und damit sind Einseitigkeiten, wenn nicht gar Fehldeutungen, vorprogrammiert.

Das Buch beginnt mit Erklärungen wichtiger Begriffe im Verständnis von Canetti. Dazu gehören Berührungsfurcht, Entladung, Ausbruch und Zerstörungssucht, also deutlich Termini aus der Psychologie. Unterschieden wird zwischen offener und geschlossener Masse, rhythmischer und stockender Masse, langsamer und rascher Masse. Als die fünf Grundarten werden Hetzmassen, Fluchtmassen, Verbotsmassen, Umkehrungsmassen und Festmassen genannt. Die typischen Massensymbole sind für Canetti Feuer, Meer, Regen, Fluß, Wald, Korn, Wind, Sand und Haufen. Als die vier typischen Eigenschaften der Masse nennt der Autor: „1. Die Masse will immer wachsen ... 2. Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit ... 3. Die Masse liebt Dichte ... 4. Die Masse braucht Richtung.“

Von der Masse wird die Meute abgehoben, nämlich eine Gruppe erregter Menschen, die sich wünschen, mehr zu sein, wobei Canetti zwischen Jagd-, Kriegs-, Klage- und Vermehrungsmeute unterscheidet. Die Untersuchungen dieser verschiedenen Erscheinungsformen von Meuten spielen im Buch eine wichtige Rolle, besteht doch die Hauptquelle Canettis aus Mythen und ethnologischen Berichten aus Afrika, Australien, Asien und Amerika. Aber auch die Gegenwart wird unter dem Aspekt der Meuten gedeutet, so, wenn die „Hybris der Produktion“ auf die ursprüngliche „Vermehrungsmeute“ zurückgeführt wird: „In der modernen Produktion hat der alte Gehalt der Vermehrungsmeute eine so ungeheuerliche Steigerung erfahren, daß alle anderen Gehalte unseres Lebens daneben verschwinden. Die Produktion spielt sich hier, in diesem irdischen Leben ab. Ihre Rapidität und ihre unübersehbare Vielfalt erlauben keinen Augenblick des Stillstandes und der Überlegung. Die furchtbarsten Kriege haben sie nicht erdrückt. In allen feindlichen Lagern, wie immer diese beschaffen sein mögen, ist sie gleichermaßen wirksam. Wenn es einen Glauben gibt, dem die lebenskräftigen Völker der Erde eins ums andere verfallen, so ist es der Glaube an die Produktion, den modernen Furor der Vermehrung.“

Im Buch werden neben Masse und Meute auch Bestandteile der Macht - Elemente und Aspekte, aber auch „Eingeweide“ der Macht - dargestellt, die jedoch fast ausschließlich an Materialien aus der Frühzeit der Menschheitsgeschichte oder aus der Krankheitsgeschichte - so der Paranoia - erläutert werden. Wenn es für Canetti keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht gibt als die Tätigkeit des Dirigenten, so erscheint das Erklärungsmuster doch wohl stark vereinfacht.

Canetti suchte mit seinen Analysen ja nach Erklärungen für die Welt, so wie er sie seit den zwanziger Jahren erlebt hatte. Deshalb ist man als Leser natürlich neugierig auf solche Aussagen, die sich auf die jüngste Geschichte beziehen. Und hier wird m. E. die Problematik eines solchen Herangehens deutlich, wie es für das ganze Buch gilt: Man versucht, alles aus einem Ursprung her zu erklären, der in einer doch recht verschwommen bestimmten Masse und ihren Wirkungen liegen soll. So verwendet Canetti beispielsweise bei seiner Bestimmung der Besonderheiten der Nationen für die deutsche Nation das Massensymbol des Waldes: „Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer: Es war der marschierende Wald.“ Daraus wird nun eindimensional abgeleitet, daß das Verbot der allgemeinen Wehrpflicht durch den Versailler Vertrag dieses Massensymbol so beschädigt habe, daß daraus der Nationalsozialismus entstand: „Das Verbot der allgemeinen Wehrpflicht ist die Geburt des Nationalsozialismus“, heißt es lakonisch.

Ähnlich problematisch und einseitig erscheint innerhalb dieses Erklärungsmusters auch der Antisemitismus im faschistischen Deutschland. Da wird zuerst die Inflation als eine der bedrohlichsten Entwicklungen innerhalb moderner Zivilisationen diagnostiziert - und zwar wegen der gestörten inneren Verhältnisse der Massensymbolik. Dann erscheint der Nationalsozialismus als gekonnter und gewollter Nachahmer der Inflation in bezug auf die Juden, indem man sie immer mehr „entwertete“. Schließlich wird daraus eine Erklärung für das Verhalten der Deutschen gegenüber den Juden seit 1933: „Man hätte sie schwerlich so weit bringen können, wenn sie nicht wenige Jahre zuvor eine Inflation erlebt hätten, bei der die Mark bis auf ein Billionstel ihres Wertes sank. Es ist diese Inflation als Massenphänomen, die von ihnen auf die Juden abgewälzt wurde.“ Man steht ein wenig ratlos vor einer solchen Ausdeutung.

So hat denn das Buch Masse und Macht zwar viele interessante Einsichten zu einzelnen Problemfeldern, aber in seiner Gesamtheit, bezogen auf die zentralen Aussagen zu Masse und Macht und ihrer Bedeutung im 20. Jahrhundert, fehlen befriedigende Aussagen. Man sollte das Buch gelesen haben, wenn man Canetti und seine Ansichten kennenlernen und besser verstehen will, gerade auch wegen mancher Einseitigkeit, Übertreibung, betonter Originalität oder bloßer Provokation. Den großen Anspruch aber, den man zu Beginn der Lektüre hat, wird man zurückschrauben müssen.

Als Canetti sein Buch Masse und Macht beendet hatte, schrieb er den stolzen Satz: „Jetzt sage ich mir, daß es mir gelungen ist, dieses Jahrhundert an der Gurgel zu packen.“ Wenn ich ehrlich sein soll: Die Gurgel hat er wohl nicht erwischt. Es war höchstens die Schulter, an der er ein wenig gerüttelt hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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