Analysen · Berichte · Gespräche · Essays

Bernd Heimberger

Zeit für Zeugen

Irgendwann war entschieden. Kein Konzentrationslager mehr! Kein Kriegsfilm mehr! Ich hatte genug Konzentrationslager besucht. Genug Kriegsfilme gesehen. Ich glaubte begriffen zu haben, was das ist: Konzentrationslager und Krieg. Ich war in keinem KZ. In keinem Krieg. Ich bleibe immer Besucher. Ich bleibe immer Zuschauer. Ich werde nie begreifen. Krieg und Konzentrationslager sind unbegreifbar. Ich weiß, wohin ich nie will. In ein Konzentrationslager. In den Krieg.

An einem Sommertag Siebenundsechzig habe ich mich an der kräftig blühenden Kamille gefreut, die im Lager von Maidanek blühte. Die mächtige Mutter Erde im Ehrenhain von Wolfograd hat müde gemacht. Kein Konzentrationslager eignet sich für Besuche. Kein Kriegsfilm ist der Krieg.

Wenn was ist, was bleibt, ist es das Berührtsein. Das kann stärker sein denn je. Und auch nicht. Selbst, wenn Tränen fließen. Erstmals öffentlich. Nach fünfzig und mehr Jahren. Und das in der Stadt der Wannseekonferenz. Die Stadt, die erneut Hauptstadt ist und doch nicht das einstige Reich verwaltet. Deutschland hat gezahlt mit deutschem Land. Obwohl zahlend nichts zu begleichen ist. Simon sagt: „Ich verüble es den Deutschen nicht!“ Was? Simons starke Stimme schwankt. Sein Satz ist keine pauschale Absolution. Simon hat ein dramatisches Schicksal gelehrt, unterscheidend zu entscheiden. Simon spricht die Deutschen nicht schuldig für die Schuld der Deutschen. Das hören die gern. Die, die gekommen sind. Viele sind Juden. Deutsche Juden oder Juden in Deutschland?! Sie applaudieren Simon. Sie applaudieren selten. Am seltensten spontan an diesem Abend in Berlin. Der ein Abend ist, wie und was andere Abende sind in Berlin. Wie andere, ist er dennoch anders.

In Deutschland hat die Heizperiode begonnen. Der Noch-nicht-Herbst hat seine erste spürbare Kühle. Es ist erst, es ist schon der 21. September. Anno 5760. Anno 2000. Am Ort. Der Ort ist der Große Saal der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Fasanenstraße 79-80. 10623. City West sozusagen. Kein „Gefährlicher Ort“, wie andere Orte der Stadt, die die Polizei dann und wann kontrolliert. Das Haus der Jüdischen Gemeinde gilt als gefährdeter Ort wie andere Orte in der Stadt, die die Polizei ständig umstellt. Keine jüdische Institution in Deutschland ohne den deutschen Schutzschirm! Deutschlands Schwäche? Die keine Demontage der Stärke zuläßt? Ein einziges Mal war die Aufenthaltssperre vor dem Gitter vor der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße aufgehoben. Ein Landsmann hatte in Jerusalem seinen Premier gemeuchelt. Zwei Tage war das Gitter die Berliner Klagemauer und zwei Wochen ein Rosenstock für Rabin. Eine Polizistin, drei Polizisten der dritten Nachkriegsgeneration tun am Abend des 21. September 2000 im Bereich der Fasanenstraße 79-80 ihren unauffälligen, achtsamen Dienst. Im Eingang des Gebäudes die unvermeidliche (?) elektronische Schleuse. Ein Sicherheitsnadelöhr, durch das jeder durch muß. Versuche, die Behinderung nicht hinzunehmen, werden nicht hingenommen. Eingeschleust zu werden, löst immer Befremden aus. Eingeschleust zu sein zieht immer ein Fremdsein nach sich.

Am Tag nach dem Abend titelt die Hauptstadtzeitung, die den Namen der Stadt führt: „Zentralrat der Juden - Bittere Bilanz zum 50jährigen Bestehen: Noch immer fühlen sich viele Juden in Deutschland als Fremde.“ Der Bericht über den Festakt zum Jubiläum zitiert in der Überschrift Paul Spiegel, den Präsidenten des Zentralrats: „Antisemitismus in allen Schichten“. Geäußert am Nachmittag dieses Donnerstags. Im Hotel Adlon. Unter den Linden 1. Östlich des Pariser Platzes. Inzwischen ist der Tag um Stunden älter. Das Publikum sieht noch sehr nach Festakt aus. Viel Toupierte. Viel Seide. Perlmutter glänzt und Goldenes. Obwohl alles schlicht angelegt ist. Hier. Für den Abend. Eingeladen ist zur „Buchpremiere“. O je, Buchpremiere! Wenn, wann hat ein Buch Premiere? Wenn die Idee da ist? Wenn die Idee ausgeführt ist? Egal! Buchpremiere also! Und das an so einem alltäglich nicht alltäglichen Tag. Im nicht bis auf den letzten Sessel besetzten Großen Saal. Spiegel spricht. Ganz in feinem Grau, in dem er die nächsten beiden Tage im Fernsehen zu sehen ist. Er hat etwas vom Onkel-Paul-Aussehen. Etwas von der Art eines Vorstandschefs, dem man gern glauben möchte. Altern scheint noch nicht seine Angelegenheit. Den einzigen spontan zu nennenden Beifall des Abends bekommt Spiegel, als er vom Manuskript wegguckt, als er Selbstverständlichstes wiederholt, als er die strikte Bestrafung rechtsextremer Gewalttaten und Täter verlangt. Noch einmal legt Spiegel den Satz vom „Antisemitismus in allen Schichten“ nicht auf. Der Redner redet von Respekt, von Bewunderung, von Sympathie. Sie machen die beste Erinnerung der Menschen möglich und aus, die ihr Leben gemäß dem Motto gelebt haben: „Wer ein Menschenleben rettet, der rettet ein ganzes Volk.“ Das ist das Motto des Abends.

Paul Spiegel ist ein Geretteter. Seine Retter waren belgische Bauersleute. Auch sie waren Stille Rebellen. Der Abend des 50. Geburtstages des Zentralrats wird zur Erinnerungs-Ehren-Stunde für die „Stillen Rebellen“ in Belgien. Ihnen ist das Buch nicht nur gewidmet, dessen Premiere die Einladung ankündigte. Die Autorin heißt Marion Schreiber. Im Laufe des immer länger werdenden Abends ist die Journalistin die immer stiller werdende Begleiterin ihres Buches. Schreiber hat Stil. Auch in der Präsentation. Sie nimmt hin, was alle Anwesenden hinnehmen, daß der belgische Botschafter wiederholt, was 55 Jahre gesagt wurde. Auch, „daß Demokratie nur funktionieren kann, wenn man sich täglich für sie einsetzt“. Ein wichtiger, richtiger Redesatz, den keine Wiederholung wichtiger und richtiger macht. Die Buch-Vorstellung beginnt zu werden, wie Buch-Vorstellungen sind. Fakten fallen einem auf den Kopf. Die Beine schlafen ein. Lesung muß sein. Gelesen wird wie gelesen wird, wenn eine attraktive, lernende Schauspielschülerin liest. Die Stimme umschleicht den Stoff. Der Stoff bekommt keine Stimme. Die Lesende hat dennoch die Gunst des Publikums. Die Leserin ist die Enkeltochter eines „Stillen Rebellen“ aus Belgien, der sein antifaschistisches Leben in der DDR fortsetzte. Er war einer der drei jungen Männer, die den 20. Deportationszug nach Auschwitz stoppten und so mehr als ein Menschenleben retteten. Claire, die das Schlußwort hat und es am liebsten nicht mehr hergeben möchte, Claire aus Tel Aviv ist - wie Simon - eine Gerettete. Aus dem Zug geflohen, ließ sie den Vater zurück. Wie Simon die Mutter. Zurücklassen auf Nimmerwiedersehen ist eine Bürde, die eine Lebenslast bleibt. Zurückhaltend, zunächst, zieht das Mikrophon Claire magisch an. Nicht von der Technik beherrscht, beherrscht sie die Technik des Vortrags. Ebenfalls erstmals in Berlin - gemeinsam mit ihrem Mann - wird Claires deutsch-französische Rede-Erklärung-Erzählung von Minute zu Minute schwungvoller. Claire hätte gut den Anfang machen können. Claire ist gut für den Schluß, der verzögert wird. Als sie die Namen der Angehörigen nennt, die aus dem Konzentrationslager nicht zurückkamen, kann niemand so schnell mitzählen. Die Finger beider Hände reichen nicht. Claire hat nicht soviel Stimme wie Namen. Das Publikum wird still. Wird steif. Zuviel Konzentrationslager? Zuviel Kriegsfilm? Für das Publikum der Jüdischen Gemeinde zu Berlin? Für die Alters-Genossen der Zeit-Zeugen am Pult und auf dem Podium? Wer teilt mit Claire das Wissen, das sie in der Stunde des Geschehens hatte: „Wir haben gewußt, wir fahren zum Tod!“? Oder war allein die bekennende Trotzkistin, die in einer Gruppe um Ernest Mandel groß wurde, wissender? Von Claire gibt's nicht, wie von Simon, ein Angebot zur Versöhnung. Claire sagt: „Ich habe gefunden in Israel mein Schalom.“ Das deutsche „Frieden“ läßt sie übersetzen. Claire dankt und dankt und dankt der deutschen Autorin, die mit ihrem Buch Stille Rebellen Seele, Namen und Identität gegeben hat, wie Claire sagt. Marion Schreiber sieht Robert an. Nur noch Robert. Auch Robert ist Überlebender. Er ist der überlebende Täter. Der einzige der drei Rebellen, die den 20. Deportationszug bremsten. Robert ist nicht mehr gut zu Fuß. Auf die deutsche Sprache will er sich nicht einlassen. Der Held gibt nicht den Helden. Der Täter streicht nicht die eine Tat heraus. Dem Sohn eines Militärarztes ist Leben eine Linie. Auch die Linie der „Operationen“, an denen er von 1940 bis 1945 beteiligt war. Mit Jugendfreunden, zu denen emigrierte Deutsche und Österreicher gehörten wie die Landsleute. Robert hat Sinn für die Ironie der Geschichte und die Geschichten, die Geschichte schreiben. Robert berichtet, daß Widerstand immer möglich und wie er machbar war. „Mit Abenteuergeist, mit der Absicht zur Hilfe und dem Willen, den Deutschen zu schaden.“ Roberts Feststellungen und Festlegungen zwingen manchen Zuhörer, sich zu fragen: Wieso konnten so viele Räder rollen? Vermutlich reicht eine Geschichte nicht aus für die endgültige, eindeutige Antwort. Robert rückt immer wieder von Robert ab. Anders als der gerettete Simon. Die Rettung war sein Erlebnis. Das begann, als der Elfjährige zum widerwilligen Flüchtling wurde. Simon macht klar, auch ein dramatisches Schicksal ist zumeist die Folge von zufälligen, schlichten Ereignissen. Erinnerungen können das Zufällige selbstverständlich erscheinen lassen und das Schlichte das Besondere sein. Desto kräftiger die Gefühle des Erinnernden, desto eher sind die Zuhörer als Zuhörer gewonnen. Simon durchbricht die Barrikade Buchpremiere. Als erster macht er an diesem Abend die Begegnung des Podiums mit dem Parkett. Wie bitter es ist, wenn Menschen den Menschen verlorengehen, wenn sich Menschen als Menschen verlieren, berichtet Régine. Wie Simon, wie Claire, vom Todeszug abgesprungen, sagt die Krankenschwester Régine: „Wenn man eine Nummer bekam, hörte man auf, Mensch zu sein!“

Sind unter den älteren Anwesenden Numerierte? Ist jemand im Saal, der Régines Satz auf der Haut spürt? Wer sonst kann den Satz begreifen? Wer, der nicht spürt? Die Frau im Rampenlicht, hinter Mikrophon und Wasserglas, die Frau mit dem rotblonden Haar ist der Satz. Wie da nicht hinhören? Wie da wegsehen? Régine, Simon, Claire und Robert sind wirklich, sind wahrer als musealisierte Konzentrationslager und inszenierte Kriegsfilme. Sind jetzt Teil der Szenerie Buchpremiere. Retter und Gerettete sind das Leben in der gespielten Szene des Lebens. Dem Kontrast muß sich das Publikum stellen. Muß ihn aushalten. Um sich nicht - abermals? - herauszuhalten. Wer kann's? Wie üblich die, die keiner Veranstaltung gestatten, das Limit von anderthalb Stunden zu überschreiten? Die Abwanderung aus dem Saal nimmt zu, je schneller sich der Abend der Mitternacht nähert. Marion Schreiber zwingt sich, den Zeit-Zeugen Gesprächs-Zeit zu entziehen. Weiteres zur Zeit-Geschichte und von den Zeit-Zeugen siehe „Stille Rebellen“!

Irgendwann, demnächst, sind keine Zeugen mehr da. Irgendwann müssen die Zeugnisse der Zeit für die Zeugen da sein. Eingeweckte Geschichte ist auch die Geschichte des Einweckens. Siehe Konzentrationslager als Museum. Siehe Krieg als Film. Tränen eignen sich nicht fürs Konservieren. Kein Zeugnis kann die Tränen so zeigen wie die Tränen der Zeugen der Zeit. Die Zeit der Tränen versiegt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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