Eine Annotation von Anne Mann
Histor, Manfred:
„Willy Brandts vergessene Opfer“
Geschichte und Statistik der politisch motivierten
Berufsverbote in Westdeutschland 1971-1988.
ARIMAN-Verlag, Freiburg 1992 (2. Aufl.), 233 S.

Eines der wenigen Worte deutscher Zunge, die in das Vokabular anderer Sprachen übernommen wurden, ist „Berufsverbot“, le Berufsverbot heißt es z. B. im Französischen. Das Wort kennzeichnet eine politische Praxis in der BRD, die mit dem am 28. 1. 1972 von einer SPD-Regierung verabschiedeten Radikalenerlaß gesetzlich legitimiert wurde. Der Autor beschreibt auf der Grundlage politischer Erklärungen im Bundestag, gesetzlicher Bestimmungen in den Ländern sowie mit dem von Bürgerinitiativen gesammelten statistischen Material die Phase in der BRD, wo der gewöhnliche Antikommunismus umschlug in Gesinnungsjustiz, vergleichbar der McCarthy-Ära in den USA. „Wenn Ulrike Meinhof gar nicht zum Revolver gegriffen hätte, ich aber durch ihre Publikationen wüßte, wie sie über diesen Staat denkt, würde ich sie nicht zur Lehrerin machen“, wird der SPD-Ministerpräsident Kühn von Nordrhein-Westfalen zitiert. Oppositionelle Denkweise gerät in Verdacht, „Ziel ist eindeutig die Bestrafung bestimmter Gedanken und nicht Taten“, stellt der Autor fest. Ausführlich Quellen zitierend, behandelt Manfred Histor (ein Pseudonym) zwei Schwerpunkte: die quantitative Erfassung der Berufsverbote der 70er und 80er Jahre sowie die Geschichte des Radikalenerlasses und seine Folgen. Die angegebene Zahl von 10 000 „ist ein roher Schätzwert, aber mit Sicherheit nicht übertrieben“. Die Frage, „wer sind die Opfer der Berufsverbote“, wird mit der Aufschlüsselung nach Berufen und nach Parteizugehörigkeit bzw. politischer Betätigung beantwortet. An erster Stelle stehen Lehrer (ca. 80 %), gefolgt von Hochschullehrern und Bibliothekaren, Juristen, Kindergärtnerinnen und Krankenschwestern, genannt werden auch ein Lokführer, Mechaniker, Techniker. Politisch suspekt waren in erster Linie Mitglieder der zugelassenen DKP, Sympathisanten und Ehepartner von DKP-Leuten, gewerkschaftlich besonders aktive Personen, von der Mehrheitslinie abweichende SPD-Mitglieder, parteilose Lehrer, die aufklärerische oder kritische Inhalte vermittelten (z. B. eine Studienrätin, die auf die ehemalige SS-Mitgliedschaft des ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer hinwies), Personen, „die von der Geheimpolizei (gemeint ist der Verfassungsschutz, d. A.) denunziert wurden“, u. a. wegen der „Teilnahme an (völlig legalen, friedlichen, durch die westdeutsche Verfassung ausdrücklich geschützten) Protestdemonstrationen z. B. gegen den Faschismus in Chile“. Viele Berufsverbote seien zunehmend auch als Arbeitslosigkeit verschleiert worden, die nur dann auffielen, wenn die abgelehnten Bewerber außergewöhnlich gute Examina aufwiesen. Ein Geheimerlaß des Berliner Schulsenators forderte Behörden ausdrücklich auf, „aus politischen Gründen abgelehnte Bewerber mit falschen Gründen abzuspeisen“. Das Fazit des Buches: In allen Berufsverbotsfällen wurde gegen verschiedene Artikel des Grundgesetzes verstoßen. Als Verantwortlichen sieht der Autor Willy Brandt, unter dessen Ägide als Bundeskanzler (GG, Artikel 65: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung“) die politische Verfolgung per Radikalenerlaß erfolgte. Daran ändere auch nichts die 1976 aufgrund internationaler Proteste erfolgte Korrektur durch Willy Brandts Eingeständnis: „Ich habe beim Radikalenerlaß geirrt.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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