Eine Annotation von Wolfgang Buth
cover Berliner Institut für Lehrerfort- und -weiterbildung
und Schulentwicklung (Hrsg.):

„... die vielen Morde ...“
Dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.
Hentrich & Hentrich, Teetz 1999, 208 S.

Der Titel des Buches ist ein Teil jener Worte, mit denen Ulrich-Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld vor dem Volksgerichtshof die Frage Roland Freislers beantwortet hat, was er dem Nationalsozialismus zur Last legen könne. Er sagte: „Ich dachte an die vielen Morde ...“ Unterbrochen von dem Schrei Freislers „Morde?“, setzte Schwerin noch dazu: „... die im In- und Ausland ...“, und wurde erneut niedergebrüllt.

Diese Publikation wurde angeregt durch den „Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus“, der im Jahre 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog mit Zustimmung aller Fraktionen des Deutschen Bundestages eingeführt wurde und der alljährlich am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, begangen werden soll. Gemeint sind die Opfer des NS-Regimes, also jene Menschen, die - so Herzog - „einer willkürlich definierten Rasse angehörten oder sonstwie vom willkürlich festgelegten Menschenbild abwichen“ und deren Existenzrecht daher von den Nationalsozialisten bestritten bzw. deren Recht auf Lebensgestaltung brutal mißachtet wurde. Mit dem Gedenktag 27. Januar (ich habe ihn noch in keinem Kalender gefunden) wird die Aufmerksamkeit auf die Angehörigen von rassistisch verfolgten Gruppen gelenkt, denen in der Vergangenheit häufig wenig öffentliche Zuwendung widerfahren ist. Erarbeitet und herausgegeben von Wissenschaftlern des Berliner Instituts für Lehrerfort- und -weiterbildung und Schulentwicklung (BIL), möchte das Buch alle politisch-historisch Interessierten ansprechen, verfolgt im besonderen aber die Absicht, Lehrende im Bereich der politischen Bildung bei ihrer pädagogischen Arbeit zu unterstützen, indem Sachinformationen vermittelt sowie Hinweise auf Literatur, Medien und Unterrichtsmaterialien gegeben werden. Gegliedert ist die sehr informative Schrift in drei Teile.

Teil I - „Ideologie und Organisation des Rassismus“ - vermittelt anhand lexikalischer Stichwörter einen Überblick über die Geschichte des rassistischen Denkens in Europa, ergänzt durch die Wiedergabe einer „Stellungnahme zur Rassenfrage“, die von einem UNESCO-Workshop 1995 erarbeitet worden ist. Hier finden wir u. a. auch die „Nürnberger Gesetze“, insbesondere das Reichsbürgergesetz und das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935, praktisch Grundlagen und Ausgangspunkt aller Überlegungen und Taten des nationalsozialistischen Regimes hinsichtlich von Rassefragen, sowie den Beitrag „Angewandte Rassenwissenschaft. Zur Arbeit der Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle sowie des Kriminalbiologischen Instituts der Sicherheitspolizei“.

Teil II - „Opfergruppen“ - ist der Hauptteil, der Schwerpunkt des Buches. In sieben Abschnitten werden Opfergruppen detailliert beschrieben: Juden, Sinti und Roma, Kranke, Zwangsarbeiter, Homosexuelle, Kriegsdienstverweigerer und Deserteure, Jugendliche. Jeder dieser Abschnitte enthält grundsätzliche Beiträge (u. a. „Zur Geschichte der Juden in Berlin“, „Judenverfolgung und Widerstand in Berlin 1933 bis 1945“, „Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur und der Holocaust“, „Der NS-Völkermord an den Sinti und Roma“, „Zwangssterilisation“, „Ausländer-Einsatz in der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945“, „Zur Geschichte des § 175 des Strafgesetzbuches“) sowie Hinweise auf Literatur und andere Medien, Fotos, Statistiken und Autobiographisches.

Teil III - „Lernorte“ - gibt einen Überblick über wichtige Bildungs- und Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg zum Thema. Vorgestellt werden mit Anliegen, Adresse, Telefonnummer und Öffnungszeiten u. a. das Anne Frank Zentrum Berlin, die Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz, die Stiftung „Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum“, die Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Topographie des Terrors, das Deutsch-russische Museum Berlin-Karlshorst sowie Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen.

Obgleich insgesamt sachlich, informativ geschrieben, berührt dieses Buch über die Opfer des Nationalsozialismus auch die Gefühle des Lesers, so durch Zeichnungen, Fotos, Gedichte und Auszüge aus literarischen Werken (z. B. Alfred Döblin: Die Fahrt ins Blaue). Das Buch ... die vielen Morde ... dürfte alle die ansprechen, die sich für die Zeit des Nationalsozialismus interessieren und detaillierte Sachinformationen suchen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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