Eine Annotation von Gisela Reller
Kaminer, Wladimir:
Russendisko
Wilhelm Goldmann Verlag, München 2000, 192 S.

Russendisko - was bedeutet dieser Buchtitel? „Nach der Perestroika“, so der Autor, „haben sich viele meiner Landsleute rund um die Erde verstreut und treiben nun hin und her. Sie haben sich von einem Ufer abgestoßen, sind aber am anderen nie angekommen. Wir leben in einer Zeit des allgemeinen Pendelverkehrs. Das ist für mich ,Russendisko‘.“

Wladimir Kaminer gehörte 1990 zur „fünften Welle“ der russischen Emigration - ein dreiundzwanzigjähriger Moskauer, der damals problemlos einen ostdeutschen Ausweis erhielt, weil er jüdische Vorfahren hatte. Die ersten seiner reportagehaften Kurzgeschichten in Russendisko sind autobiographisch und erzählen von seiner spontanen Ausreise aus Moskau, dem Ausländerheim in Marzahn, der ersten eigenen Wohnung im Berliner Prenzlauer Berg, vom Vater, der Mutter und den Tanten, die im Laufe der Zeit in Deutschland familienzusammengeführt wurden, von seiner Frau Olga, die im fernen Sachalin geboren wurde, und den beiden Kindern. Diesen Geschichten, ernst, aber amüsant verpackt, nimmt man durchaus ab, wahr zu sein. Die anderen kurzweiligen Geschichten erzählen von Freunden und Bekannten, allesamt „schräge Vögel“. Da ist Ilona, der Ärzte angeblich eine Maus in den Kopf operiert haben; da konsultiert eine Freundin eine Profihexe, um ihren Mann wiederzuerobern; da sind Griechen, die in der Volkshochschule Italienisch lernen, weil sie eine Pizzeria besitzen; da gibt es einen ukrainischen Studenten, der vom Tellerwäscher eines Krokodil-Steakhauses zum „Manager“ eines Kürbiskern-Standes aufsteigt ... Und nichts, behauptet der Autor, ist ausgedacht, alles selbst erlebt. Warum nur erlebt unsereins so etwas nicht? Auffallend, daß alle handelnden Personen, mögen sie auch noch so eigentümlich sein, vom Autor ganz offensichtlich geliebt werden. Er trainiere damit, so meint Kaminer, Nächstenliebe.

In einem Interview in der „taz“ wird Kaminer gefragt, ob es nicht anstrengend sei, immer nur aus eigenem Erleben Literatur machen zu müssen? Seine Antwort verblüfft, denn er gesteht: „Ich habe keine großen literarischen Ansprüche.“ Das mag Koketterie sein. Aber bei aller Anerkennung seiner Begabung, fällt doch auf, daß manche Geschichte seines Erstlings gar zu schnell gestrickt ist und daß nicht jede Pointe „sitzt“. Manche der angenehm schnörkellos geschriebenen 50 Kurzgeschichten müßte vor dem letzten (unnötigen) Satz aufhören, könnten auch ein Quentchen mehr Biß und Tiefgang vertragen.

Wladimir Kaminer ist Schauspieler, Dramaturg, schreibt für die „FAZ“, die „FR“, die „taz“ und ist Kolumnist bei Radio Multikulti SFB 4 und der Erfinder der „Russendisko“ im Berliner Kaffee Burger. In Vorbereitung ist sein Roman Militärmusik.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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