Eine Rezension von Thomas Böhme

Enge Räume

Christine Zander: Die Jungfrau im Leibchen
Verlag DIE SCHEUNE, Dresden 2000, 46 S.

Das ist ein Hof, den man sich zwischen alten Mietshäusern vorstellen mag, auf dem Hof Kisten und in einer der Kisten Rotterklaus, wie er sich von seinem kleinen Bruder einen blasen läßt. Und da ist eine Bodenkammer, von dem aus Lina das Geschehen beobachtet, ohne freilich zu begreifen, was sie da sieht.

Überhaupt ist Lina, die mit ihrer Mutter in einem Bett schläft und sich ekelt, wenn die Mutter vom Bett aus auf den Nachttopf pißt, für ihre zwölf Jahre mit beschämender Unwissenheit geschlagen, denn „niemand hatte ihr gesagt, was mit dem Glied eines Mannes geschieht“. So beginnt Christine Zander ihre Erzählung, um gleich aufs Wesentliche zu kommen. Es geht um den Umgang mit Sexualität, der eigenen und der des rästelhaften Wesens „Mann“, das in Linas Phantasie eine Mischung aus dem edlen Chevalier einer Kino-Schmonzette und dem vulgären Rotterklaus von dem Hof ist.

Und da ist noch der verglaste Balkon der Wanjaks, auf dem Lina sich wohl fühlt, obwohl der über 60jährige Wanjak ihr in letzter Zeit nicht mehr so oft übers Haar streicht und nicht mehr den Weihnachtsmann spielen will wie in all den früheren Jahren.

Es sind enge Räume, beengende Verhältnisse, in denen man buchstäblich die geistige und materielle Ärmlichkeit riecht, wo Lina den Geheimnissen des Erwachsenwerdens auf die Spur kommen muß, wo die Toilette Abort heißt - auf dem es heimtückische Spinnen, wenn nicht gar Ratten gibt - und wo man noch die Bohnerbürste schwingt. Eine proletarische Kindheit irgendwo in Mitteldeutschland, Anfang der sechziger Jahre, als es zwar schon Strumpfhosen gab, aber Linas Mutter kann sie ihr nicht kaufen. Deshalb muß Lina auch ein abgeschnittenes Unterhemd als Leibchen tragen, an das die Mutter Strumpfhalter genäht hatte.

Das Leibchen steht als Symbol für alles, was Lina ängstlich verbergen muß, dazu gehört noch die unzeitgemäße Zahnlücke, für die sie längst zu alt ist, und seit neuestem ein schönes Gefühl zwischen den Beinen, wenn sie mit ihren Fingern einen bestimmten Punkt ertastet und daran reibt. Sie hat es aber auch wirklich schwer. Die Mutter ist hoffnungslos überfordert, ihr auch nur die einfachsten Begriffe des Frauseins beizubringen. Tatsächlich fängt sie ein Aufklärungsgespräch mit Kühen und Schmetterlingen an, das selbst in dieser biederen Atmosphäre zu plump wirkt, ginge es nicht im befreienden Lachen Linas unter. Und Rotterklaus, der sich freimütiger gibt und Linas Hand gegen entsprechende Gegenleistung zum eigenen Glied führt, stellt sich wiederum zu ungeschickt an, um Linas Neugier über ihre Panik siegen zu lassen.

Erst der alte Wanjak, auf den auch die Mutter ein Auge geworfen hat, obwohl er verheiratet ist, wird Lina in einem verstörenden Moment das letzte Geheimnis offenbaren. Und Lina weiß nun, warum die Jungfrauen im Kino in Ohnmacht fallen und warum nach dem schmachtenden Kuß der Abspann kommt. Daß Lina Wanjak zunächst darum bittet, die Weihnachtsmannmaske zu tragen, verleiht der Szene zugleich etwas Rituelles wie auch Lächerliches.

Zum Glück hütet sich Zander davor zu moralisieren. Eine Lolita ist Lina bei weitem nicht, ebensowenig aber wird sie als unschuldiges Opfer hingestellt. Der allzu strapazierte Begriff vom sexuellen Mißbrauch würde Linas Empfindungen nicht gerecht. Vielmehr beschreibt Zander die Nuancen der einander widersprechenden Gefühle mit allergrößter Behutsamkeit. Und in der anschließenden Phase des sich Zurückziehens wirkt Lina keineswegs zerstört, sondern gereift und in die Welt der Erwachsenen eingeweiht. Hier haben fraglos eigenes Leben und genaueste Kenntnis der kindlichen Psyche der Autorin die Feder geführt.

Nun kann Lina auch Rotterklaus ganz anders gegenübertreten. Nur dumm, daß der just in diesem entscheidenden Frühling ihres Lebens fortziehen muß. So kann sie ihm nicht einmal mehr ihren endlich durchbrechenden Zahn präsentieren, der ihr noch wichtiger ist als die erste Monatsblutung.

Vor zehn Jahren erschien Christine Zanders Romandebüt Lebensangst, die Geschichte einer jungen Frau auf der Suche nach sich selbst. Die Jungfrau im Leibchen ist Zanders zweite Buchveröffentlichung. Daneben stehen gleichermaßen etliche Features für den Rundfunk, Erzählungen in Anthologien und fotografische Arbeiten, die sie in den letzten beiden Jahren in mehreren Ausstellungen präsentierte.

Um so erfreulicher, daß der Dresdner Verlag Die Scheune mit der nur 46 Seiten umfassenden Erzählung jetzt auch die Autorin wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit rückt, und das mit einem Text, der gegenüber dem Debüt einen deutlichen Qualitätssprung erkennen läßt. Das Komprimieren, das Beschränken auf wenige Schauplätze und Personen, ergänzt durch den dichten, zuweilen expressiven Erzählton, der aufs Wesentliche zielt, sowie die überscharfen, bis an die Schmerzgrenze gehenden Bilder - all dies stellt den noch unentschiedenen, manchmal klischeebehafteten Roman Lebensangst weit in den Schatten.

Kurz, mit Die Jungfrau im Leibchen - über den Titel ließe sich streiten - ist Christine Zander ein ehrliches, zuweilen auch komisches Prosastück über den Abschied von der Kindheit gelungen, das die Vorgänge beim Namen nennt, dabei konsequent aus der Perspektive des Mädchens beobachtend, was in der deutschen Literatur in dieser Direktheit, ohne feministische Drohgebärde, noch immer zu den Raritäten zählt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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