Eine Rezension von Jutta Aschenbrenner
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Momentaufnahmen in Wort und Bild

Jutta Voigt/Rolf Zöllner:
Der Spleen von Berlin
Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1999, 128 S.

Eine Auswahl aus vorliegenden journalistischen Texten und Fotos unter einem bestimmten Thema für eine Buchvorlage zusammenzustellen ist längst ohne allzu großen technischen und zeitlichen Aufwand möglich. Auf diese Form einer Zweitveröffentlichung wird, vorausgesetzt, es gibt einen an dem Stoff interessierten Verlag, gern zurückgegriffen, wohl auch, weil im Gegensatz zum Tagesjournalismus Bücher etwas Beständigeres sind. Der Bild-Text-Band Der Spleen von Berlin enthält 37 Feuilletons von Jutta Voigt, verfaßt in den Jahren 1994 bis 1998, und 77 Fotos von Rolf Zöllner, bis auf eine Ausnahme in der Zeit von 1990 bis 1999 aufgenommen. Feuilletons und Fotos wurden zu einem passabel aufgemachten Buch kombiniert, in dem Berlins „neue Mitte“ als „einer der spannendsten Orte in der Hauptstadt“ vorgestellt werden soll.

Mit ihrem besonderen Blick für Details, die dem Touristen oder rasch vorbeieilenden Besucher zumeist verborgen bleiben, für das Häßliche wie das Schöne, das Alltägliche wie das Außergewöhnliche, das Gute wie das Böse, haben sich die Feuilletonistin und der Fotograf, jeweils für sich, insbesondere im Prenzlauer Berg und in Berlin-Mitte umgesehen. Hier spürten sie den Veränderungen nach, wie sie sich gleich nach der Wende sehr sichtbar vollzogen haben. Ein eingängiges Stimmungsbild davon liefert Jutta Voigt schon im ersten Feuilleton „Das Durchgangszimmer“, das sie so beschließt: „Vor meinen Fenstern tobt das Prenzlberger Leben. Autos parken auf dem Bürgersteig, Cabrio-Fahrer drehen in warmen Nächten ihre Boxen bis zum Anschlag, euphorische Unternehmer schreien beim Mojito Termine in die Handys. Die Penner vom Platz brüllen im Gebüsch wie Tiere auf der Schlachtbank. Fremdes Leben rauscht durch mein privates, als sei die Welt ein Durchgangszimmer.“ In ihren kurzen, individuellen Beiträgen ist die Autorin immer darum bemüht, dem Nebeneinander und auch Ineinandergreifen von Überkommenem und Neuem, Gewohntem und Fremdartigem augenblicksgetreu gerecht zu werden. Im Feuilleton „Schöne Welt“ hat sie es besonders einprägsam auf den Punkt bringen können: „Berlin - ein Balanceakt“, so lesen wir dort, dann folgt, was damit gemeint ist: „Zwischen Metropole und Provinz, Nostalgie und Science-fiction, Ost-West, Arm-Reich, Ernüchterung und Grundsteinfieber. Die Stadt könnte drei Jahre lang Büros vermieten, ohne neue zu bauen, sagte der Investor und stellte mit entzückter Falsettstimme sein Projekt vor: Büros. Lofts am Ufer der Spree, wildromantisch zwischen Osthafen und Oberbaumbrücke, Getreidespeicher und Eierkühlhaus. Die Spreespeicher, Denkmale der Industriearchitektur, werden umgebaut zu Gehirn-Speichern für Kreative. Die können vor Ort sogar ihre Schuhe besohlen lassen - Flußlandschaft für Workaholics, alles da, jetzt fehlt dem Loftworking nur noch eins: die Arbeit.“

Groß war gewiß der Rechercheaufwand, der den Feuilletons zugrunde liegt, egal, ob sie Außenseiterorte wie besetzte Häuser oder manche Künstlerszene, auch abgelegene Plätze oder traditionsbeladene Orte wie die Karl-Marx-Allee, das ehemalige Staatsratsgebäude am Schloßplatz Nummer 1, den Reichstag, den Potsdamer Platz, die Linden oder die Friedrichstraße zum Gegenstand haben. Es sind unterhaltsame, auch hintergründig humorvolle Texte, die zugleich zum Nachdenken Anlaß geben. Und manche der charakterisierten Personen kommen uns sogar irgendwie bekannt vor, obwohl wir sie selbst nie gesehen haben. Mitunter allerdings bedient die Autorin beim „Porträtieren“ von Menschen, die wie sie selbst in der DDR gelebt und gearbeitet haben, ein wenig zu sehr in der Presse und in der Öffentlichkeit gewollte Klischees. So ist die Rede von abgewickelten Männern vom einstigen VEB Fortschritt, vom arbeitslosen Buchhalter oder Filmemacher, vom abgestürzten Archäologen ..., die wie selbstverständlich alle dem Alkohol sehr zugetan sind. Fast eine Ausnahme ist da schon der abgewickelte RFT-Ingenieur, dessen neuer Spleen darin besteht, bei Saturn am Alexanderplatz als selbsternannter Verkäufer Kunden, wie die Autorin, in Fragen elektronischer Geräte zu beraten.

Gleich mehrere Beiträge geben interessante Einblicke in das Innenleben von Cafés und Szenekneipen, die nach 1990 wie Pilze nach einem warmen Herbstregen aus dem Boden geschossen sind. Die Lokalitäten werden dabei ganz nebenbei auch nach Kriterien „beurteilt“, die wohl auch Gäste anlegen: Atmosphäre, Inneneinrichtung, Musik und Publikum. Für die Autorin scheint sehr wichtig, daß alles miteinander harmoniert - die Einrichtung, die Stimmung, die Bedienung, das Essen und am Ende die Rechnung. All dies trifft, wie nachzulesen ist, auf das schon zu Kaisers Zeiten eröffnete Café Burger in der Torstraße zu, das über Jahrzehnte hinweg sein Stammpublikum hatte. In dem Beitrag über dieses Café heißt es u. a.: „Doris sagt kein Wort, jedenfalls kein weiteres. Die Geheimnisse der Gäste bleiben unter uns, ja? Siebenundzwanzig Jahre serviert sie im Café Burger, siebenundzwanzig Jahre gesammeltes Schweigen mit weißem Schürzchen über dem Bauch ... Im Café Burger am Luxemburgplatz lümmelt sich revisionistisch das Jahrhundert, Jugendstil und sozialistischer Realismus. Spiegel mit geschliffenem Rand, Parkett und Silberkännchen, gräulichgrüne Polsterstühle und Fransenlampen in Form von Zwiebeltürmen wie im Kreml. Die Wende brachte Kiwi, Cappuccino und einen Ast mit Lämpchen ins Café, alles andere blieb, wie es war, die Preise auch, fast. Café Burger ist eine feste Burg im Sturm der Ereignisse. Die Zeit steht still bei Steak-Letscho und Soljanka ...“

Da ist man, wie bei anderen Feuilletons in dem Buch auch, geneigt, den Faden weiterzuspinnen, was gewiß für die Autorin spricht. Im Fall des Café Burger soll ausnahmsweise einmal kurz davon Gebrauch gemacht werden, war es doch zu DDR-Zeiten auch ein beliebter Treffpunkt von Journalisten aus den umliegenden Redaktionen, einige davon nur einen Steinwurf entfernt. Die Kellnerin Doris kannte viele von ihnen mit Namen. Nach der Wende, als immer mehr Redaktionen das Zeitliche segneten, schrumpften die Gesprächsrunden immer mehr, wurden sie immer seltener. Die Zeiten waren unwiederbringlich vorbei, wo beim Bierchen Redaktionelles mal mehr, mal weniger heftig diskutiert wurde, Autorengespräche stattfanden und über die Welt, wie sie war, wie sie ist und wie sie sein sollte, gesprochen wurde. Bis zu seinem Verkauf im Spätherbst 1999 hielten einige dem Café mit dem gewohnten alten Flair die Treue, auch wenn die Besuche in viel größeren Abständen als früher erfolgten. Und die Gesprächsrunden wurden immer neuzeitgemäßer. Tief hat dann alle der Tod von Doris, der Kellnerin, berührt. In den vielen Jahren war doch auch so manches private Wort gewechselt worden. Doris und Café Burger gehörten irgendwie zusammen. In dem Bild-Text-Band ist beiden ein kleines Denkmal gesetzt worden.

Gegenstand eines ähnlich Sympathie erweckenden Feuilletons ist auch die winzige Szenenkneipe „Lampion“ in der Knaackstraße, wo der Wirt Klaus, von Haus aus Puppenspieler, in der Wendezeit seine kleine Werkstatt in ein Lokal umfunktionierte. Tags oft, so erfährt man, mit seinen Puppen im Brandenburgischen unterwegs, schenkt er abends Bier und anderes aus. Im Unterschied zum Café Burger wird diese kleine Kneipe auch optisch ins Bild gebracht. Das Foto, wie auch alle anderen in Schwarzweiß, ist eine gelungene Momentaufnahme, wie so viele in dem Bild-Text-Band; zu sehen ist der weinlaubberankte Eingangsbereich mit einem Gitarrespieler, dem außer den wenigen Gästen auch ein kleiner Vogel auf dem Weinspalier „zuhört“.

Der Fotograf und Wahlberliner Rolf Zöllner hat mit seiner Kamera Gebäude, Straßen, Plätze und noch vieles mehr, dabei immer wieder auch Menschen, die dort mehr oder weniger Zuhause sind, festgehalten. Auch Kurioses hat er fotografiert, so den Palast der Republik durch Honeckers einstige Gardine im ehemaligen Staatsratsgebäude. Der Abriß des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten wurde von ihm in dem Moment aufgenommen, als die Friedrichswerdersche Kirche vom Spreeufer aus bereits zur Hälfte hinter den Bergen von Schutt „wieder hervorkam“. Das Foto „Weinende Mitte“ zeigt den Gendarmenmarkt bei Dauerregen. Vom Reichstag gibt es mehrere Fotos, leider keines von seiner Verhüllung, obgleich dazu ein Text in den Band aufgenommen wurde. Eine stark die Emotionen ansprechende Aufnahme erinnert an die Hausbesetzerszene in der Dunckerstraße im Jahre 1991 - ein frierender junger Mann, ein abgestellter Koffer, Bilder an der Wand, von der der Putz längst abgebröckelt ist. Es könnte auch so ein Durchgangszimmer sein, wie es Jutta Voigt gleich im ersten Feuilleton beschrieben hat. Doch nicht nur die Schattenseiten, sondern auch Momente von Glanz und Glitzer werden gezeigt, darunter ein Empfang bei Christ in der Friedrichstraße, ein Premierenempfang an der Deutschen Staatsoper Unter den Linden, eine Modenschau in den Hackeschen Höfen.

So leisten die Fotografien gleichermaßen wie die Texte ihren Beitrag für dieses Buch mit dem treffend-schönen Titel Der Spleen von Berlin, das wohl für all jene gedacht ist, die sich für das Besondere an Berlin interessieren, ganz egal, ob es sich dicht bei oder abseits von ausgetretenen touristischen Pfaden befindet. Ganz zum Schluß werden alle Feuilletons und genauso die Fotos akkurat aufgeführt - mit den Überschriften der Beiträge bzw. den Bildtexten und dem jeweiligen Erscheinungs- bzw. Aufnahmejahr.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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