Eine Rezension von Grit Reiler

Haltungen zum Krieg

Lew N. Tolstoj: Hadschi Murat
Eine Erzählung aus dem Land der Tschetschenen.
Aus dem Russischen von Arthur Luther.
Insel Verlag, Frankfurt/M. 2000, 190 S.

Der junge Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoj reiste 1851 wie die Söhne anderer russischer reicher Gutsbesitzer in den Kaukasus. Er wollte einen Abenteuerurlaub verbringen und schloß sich als adliger Freiwilliger ohne Rang einer Artillerieeinheit an. So wurde er über zwei Jahre lang unmittelbarer Zeitzeuge der kriegerischen Auseinandersetzungen Rußlands im Kaukasus und lernte den unbändigen Freiheitswillen der Bergvölker kennen, allen voran den der Tschetschenen und Awaren.

Nicht weniger als zehn Fassungen existieren von der 1896 begonnenen und 1904 beendeten Erzählung Hadschi Murat. Bereits ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Tolstoj eine Reihe von Erzählungen über den Kaukasus veröffentlicht, unter anderem die „Kosaken“. Nun kehrte er mit den Erfahrungen eines langen Schriftstellerlebens zu dieser Thematik zurück. Neuere Forschungen haben ergeben, daß mehr als die Hälfte des Dargestellten historisch ist. Historisch ist sogar das Haus, von dem aus Hadschi Murat seinen gescheiterten Fluchtversuch unternahm, auch der Name des Besitzers. Bei dessen Witwe hat sich Tolstoj nach Einzelheiten erkundigt, ob Hadschi Murat ein wenig Russisch konnte, wie stark er hinkte, was er bei seinem Fluchtversuch mit sich nahm. Das vorliegende Werk, als Insel-Taschenbuch eine Originalausgabe, erzählt einerseits von der Lage der kaukasischen Bergvölker und von ihrem Widerstand gegen den Zarismus und spielt andererseits am Hofe des Zaren und dem von Schamil, dem Anführer der aufständischen kaukasischen Bergvölker in den Jahren 1834 bis 1859. Mit grimmiger Satire wird das Lager Nikolaus' I. und seiner hohen Würdenträger geschildert, während das Lager Schamils zwar kritisch, aber ohne demaskierende Satire gezeigt wird. Mit offenkundiger (dem Leser nicht immer verständlicher) Sympathie ist die Gestalt des Hadschi Murat versehen, einem Stellvertreter Schamils, der zu den Russen überläuft. Keiner der Kämpfenden geht aus dem Krieg als Gewinner hervor, und wer schon nicht das Leben verliert, so doch seine Menschlichkeit, wie die russischen Soldaten bei ihren Vernichtungsfeldzügen gegen Tschetschenensiedlungen. Wieviel Gutes könnte ein solches Leben, wie es die Person des Hadschi Murat symbolisiert, unter anderen Umständen bringen, würde es nicht sinnlos vernichtet wie jene Tatarendistel, die Metapher und Anregung der Erzählung bildet. „Auch aus heutiger Sicht“, schreibt Wolfgang Kasack in seinem fundierten Nachwort, „gewinnt diese Erzählung dadurch, daß so unterschiedliche Haltungen zum Krieg gezeigt werden, denn vielen davon begegnen wir in der Gegenwart: Heldenverehrung, Lust am Zerstören, lügnerische Berichte, Verschließen der Augen vor dem Unglück anderer, Verzweiflung, Hinnahme eines auferlegten Schicksals und Bereitschaft zum Opfertod.“

Verblüffend die dem Band angeschlossenen „Erläuterungen zur Schreibweise und Aussprache der türkischen Buchstaben“. Sowohl die Awaren als auch die Tschetschenen sprechen eine nordostkaukasische Sprache, turksprachig ist da nichts. Sollte der Buchredakteur der Tatsache aufgesessen sein, daß in Tolstojs hundert Jahre alter Erzählung vielmals von „Tataren“ und „tatarischer Sprache“ die Rede ist? Dazumal war es im Sprachgebrauch üblich, die fremdstämmigen Völker (abwertend) als „Tataren“ zu bezeichnen - die eine Turksprache sprechen ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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