Eine Rezension von Horst Wagner

Ein sympathisch-kritisches Gesellschaftsmosaik

Landolf Scherzer: Der Letzte
Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 336 S.

„Der Letzte“ ist die dritte von Scherzers politisch-literarischen Reportagen über Menschen, die Macht ausüben, sowie die Mechanismen und Wirkungen solcher Machtausübung. Die Reihe begann 1988 mit „Der Erste“, einer damals aufsehenerregenden weil unkonventionellen Beschreibung des Alltags eines SED-Kreissekretärs, des „Ersten“ von Bad Salzungen. 1997 folgte in dieser Reihe „Der Zweite“, die gleichermaßen hautnahe, sympathisch-kritische Reportage über die Arbeit des zweiten Nachwende-Landrates im selben Kreis, eines „Westimportes“. Den Titel „Der Letzte“ hat Scherzer, der 1942 in Dresden geborene, seit vielen Jahren in Thüringen lebende Journalist und Schriftsteller, auf sich selbst bezogen: Gleich zu Beginn des Buches wird geschildert, wie er sich Anfang 1999 als offenbar letzter Parlamentsberichterstatter in der zu Ende gehenden Legislaturperiode beim Landtag in Erfurt akkreditieren läßt, um aus dieser Sicht den Thüringer Wahlkampf zu schildern.

Natürlich steht diesmal nicht nur eine Person im Mittelpunkt. Der Kreis der Porträtierten reicht vom Ministerpräsidenten und den Fraktionschefs über die Dorfbürgermeisterin und die Gerichtsvollzieherin bis zum Handwerker im Keller des Landtagsgebäudes. Selbstverständlich ist bei Scherzer auch mehr herausgekommen als eine bloße Wahlkampfschilderung. Es geht ihm um heutiges Politikverständnis im allgemeinen. Er entdeckt neben prinzipiellen Unterschieden auch manche Ähnlichkeiten zu DDR-Praktiken. Er gewährt tiefe Einblicke in Alltagsleben und Befindlichkeiten der Menschen, bietet zwar keine Analyse, aber doch ein vielgestaltiges Mosaik heutiger Gesellschaft, das so oder ähnlich nicht nur für Thüringen, sondern auch für andere Neu-Bundesländer zutreffen dürfte. Obwohl Scherzer aus seiner DDR-Prägung, seiner SED/PDS-Vergangenheit kein Hehl macht, geht er dabei alles andere als parteiisch vor. Er beleuchtet Schwächen, Fehler und Unaufrichtigkeiten bei allen im Landtag vertretenen Parteien und weckt doch Verständnis, ja Sympathie für ihre Vertreter, ob das der CDU-Ministerpräsident und Wahlsieger Bernhard Vogel, der abgewählte SPD-Innenminister Richard Dewes oder die Landtagsfraktionschefin und heutige Bundesvorsitzende der PDS, Gabriele Zimmer, ist.

Für den Schutzumschlag hat, wie schon beim „Zweiten“, wieder ein Bild des Malers Volker Stelzmann Verwendung gefunden. War es 1997 das Gemälde „Straße“, so ist es diesmal das etwas rätselhafte Gemälde „Konspiration“. Vielleicht soll es darauf hindeuten, daß auch ein Landtag nicht so gläsern und durchsichtig ist, wie es Scherzer bei seiner Akkreditierung versprochen wurde. Eine Verschwörung allerdings hat er nicht aufzudecken brauchen, auch keine Spendenaffäre. Und die Geschichte mit den verschwundenen Computern lag schon vor seiner Akkreditierung. Aber immerhin hat er zum Schluß herausgefunden, was ihn von Anfang an interessierte: was sich wohl heute in jenen Kellerräumen des Landtages befindet, die während der Nazizeit der Gestapo für Verhöre dienten: Sie beherbergen das Archiv der CDU-Fraktion. Die neue Landtagspräsidentin, die von der früheren Verwendung keine Ahnung hatte, hat Scherzer nach langem vergeblichen Bemühen schließlich den Zutritt ermöglicht. Selbst überrascht und betroffen, denn sie hatte von der Gestapo-Vergangenheit des Kellers keine Ahnung, bemerkt sie zum guten Schluß, das Archiv könne vielleicht ausgelagert werden und hier für die Abgeordneten und die Besucher des Landtages eine Gedenkstätte „Wider die Ohnmacht der Menschen“ eingerichtet werden.

Vor dieser Entdeckung hat Scherzer natürlich noch manch anderes Bemerkenswertes herausgefunden. So darf er Ministerpräsident Vogel nicht nur auf einer Wahlkampftour begleiten, auf der dieser seine beliebten Sprüche klopft („Thüringen muß wieder auf den Platz gelangen, den es ohne Sozialismus und Diktatur eingenommen hätte, einen unter den ersten fünf in Deutschland“). Er darf dem Landesherren auch bei einem Glas Rotwein menschlich näherrücken und aus Vogels Kindheit erfahren, daß dieser nur selten mit der elektrischen Eisenbahn spielen konnte. Denn sein älterer Bruder Jochen (der spätere SPD-Spitzenpolitiker) habe die ganz für sich belegt und einen Fahrplan gemacht, „wo festgelegt war, welche Lokomotive mit welchen Wagen wann von wo nach wo fahren sollte“. Claudia Nolte, die inzwischen ein bißchen aufs Abstellgleis geschobene ehemalige Bundesfamilienministerin, empfängt ihn nicht in ihrer allseits bekannten Rüschenbluse, sondern in T-Shirt und Jeans am Computer und bemerkt zu ihrer abgebrochenen Karriere, sie habe „die Kraft, aus der Politik auszusteigen, wenn diese anfange, ihr Ich und ihre Gefühle aufzufressen“.

Vom SPD-Fraktionsgeschäftsführer im Landtag, Heiko Gentzel, erfährt Scherzer, wie heute Parteidisziplin funktioniert: „Die Leute wählen einen ja meist nicht direkt, sondern eine Partei. Und die Partei bestimmt, wen sie als Abgeordneten wiederhaben will. Setzt sie dich ganz vorn auf die Kandidatenliste, kommst du automatisch wieder rein ins Parlament, kannst die hohen Hausraten weiter bezahlen.“ Die einstige CDU-Kandidatin zur Bundespräsidentenwahl und heutige Thüringische Wissenschaftsministerin Dagmar Schipanski stellt ihm nicht nur ihren Mann als hervorragenden Hobby-Koch vor, sie hat auch manch treffenden Vergleich von Physik und Politik zur Hand. So den, den sie auf die DDR-Zeit vor der Wende bezieht, der aber auch für andere politische Konstellationen gelten könnte: Es sei ein Maximum an potentieller Energie erreicht gewesen. Aber „jeder, der den Kopf rausstreckte, bekam eins drauf, und es war wieder Ruhe. Alles war gleich, und wenn in der Physik alles gleich ist, bewegt sich nichts mehr. Dann ist der Endzustand erreicht.“ Überhaupt sind es die originellen Formulierungen und Vergleiche, die neben den präzisen Beobachtungen und liebevollen Menschenschilderungen den Reiz dieses Buches ausmachen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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