Eine Rezension von Horst Wagner

Auf-, Ab- und Umsteigergeschichten

Günter Bersch (Fotos)/Ilona Rühmann (Texte):
Startbahn Ost
Zehn Lebensbilder.
Ch. Links Verlag, Berlin 2000, 207 S.

„Geträumt hat er immer. Vor allem vom Fliegen. Ein Himmelsstürmer ist er nicht geworden. Nur ein Meister biographischer Loopings. Sisyphus, der mit bürgerlichem Namen Wolfgang Bauroth hieß, war Flakhelfer, Kulturfunktionär, Parteischuldozent und Ingenieur. In letzter Konsequenz als Stadtstreicher, Vagabund - oder Bummelant, wie er es nannte - kam er sich selbst nahe. Er spielte Theater, schrieb Gedichte auf Bierdeckel und erfand sich neu.“

Günter Bersch ist wohl so etwas wie der Philosoph unter den Bildjournalisten und Fotokünstlern. Und so hat er sich zusammen mit seiner Text-Kollegin Ilona Rühmann (gleich Bersch früher bei der DDR-Frauenzeitschrift „FÜR DICH“ tätig gewesen) für Titelbild und Einstiegsgeschichte einen ausgesucht, den er Straßenphilosoph nennt. Hat ihn, den bärtigen Alten, den Stadtstreicher, am Tacheles vor eine MiG 23 gesetzt. Hat sein Foto als junger Flugschüler der Naziluftwaffe dazugestellt. Zeigt ihn als wohlgekleideten, engagierten DDR-Bürger - und als Obdachlosen auf seinem ebenerdigen Schlafplatz mit der Reichstagskuppel im Hintergrund.

Es ist dies wohl die skurrilste der zehn Bild-Text-Geschichten, dieser Lebensbilder von Menschen, die in der DDR ihre Startbahn hatten. Und die, als diese zusammengebrochen war - je nach Geschick und zufälligem Schicksal - auf-, ab- oder einfach nur umgestiegen sind. Da ist die Anlagenfahrerin von der Maxhütte, die, obwohl erst 48, keine Chance mehr hat auf eine neue Arbeit. Oder die Sport- und Geschichtslehrerin, der es schwerfiel, im „neuen System“ anzukommen, und die doch „verbeamtet“ wurde und ihre neuen Freiheiten nutzt. Da ist der ehemalige Grenzoffizier, der heute Touristen durch eine Art Mauermuseum führt, und der Leuchtturmwärter vom Darß, der jetzt Naturführer im Vorpommerschen Nationalpark ist. Da ist die Primaballerina vom Geraer Theater, die in die zweite Reihe absteigen mußte, kaum noch Rollen bekommt; aber auch das Bodybuilding-Ehepaar, das sein Hobby zum Beruf machen und ein eigenes Fitneßstudio gründen konnte. Zu den interessantesten dieser zehn Auf-, Ab- und Umsteigergeschichten gehören zweifellos die Bild-Text-Reportagen über den Maler-Professor Johannes Heisig und die über den General der Sowjetarmee, der einst als Berater der NVA, als Inspekteur der in der DDR stationierten sowjetischen Truppen tätig war, bis zu seinem kürzlichen Ableben am Moskwa-Ufer Romane schrieb und gelegentlich auch einen Popen küßte.

Berschs Fotos sind teils skurril, teils lustig, ein andermal traurig oder einfach nur schön. Aber immer sind sie im besten Sinne hintergründig. Das heißt, sie zwingen, länger hinzusehen, ihren Symbolgehalt zu entschlüsseln. Ilona Rühmanns Reportage- oder Porträttexte scheinen einfacher, erschließen sich rascher, sind recht informativ, aber nicht weniger hinter die Dinge leuchtend. Ihr Reiz sind die inhaltlichen Kontrapunkte und manche originelle sprachliche Bilder. Im ganzen ein sehr individueller, alles andere als glättender, aber recht würdiger und vor allem gut anzusehender Beitrag zum zehnten Vereinigungs-Jahrestag.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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