Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold
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Ernüchternde Bilanz

Franz Nuscheler (Hrsg.):
Entwicklung und Frieden im 21. Jahrhundert
Zur Wirkungsgeschichte des Brandt-Berichts.
Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2000, 511 S.

Der Sammelband umfaßt 25 Beiträge, deren Autoren ausnahmslos aus den alten Bundesländern stammen oder, wie die ehemaligen Ministerpräsidenten Carlsson (Schweden) und Gonzalez (Spanien), politisch zum Westen gehören, eine Identität, die auch ein Jahrzehnt nach grundlegenden Veränderungen im Ost-West-Verhältnis als eigenständiges Herkunftsmerkmal unverändert weiterbesteht. Das hoffnungsvolle, ja euphorische Wort des alten Staatsmannes Willy Brandt über die Deutschen, wonach zusammenwächst, was zusammengehört, wird wohl noch lange cum grano salis zu verstehen oder sogar zu bezweifeln sein. Allerdings hat Brandt mit seiner sehr allgemein gehaltenen Aussage sicherlich nicht das berühmte Wort des Aristoteles in Frage stellen wollen, wonach Herren und Knechte schwerlich jemals Freunde werden. Aber dies wird in dem Buch nicht erörtert.

Der Bericht der Unabhängigen Kommission für Internationale Entwicklungsfragen, bekannt als Nord-Süd-Bericht, vorgelegt Anfang 1980 von ihrem Leiter Willy Brandt, ist und bleibt tatsächlich ein Papier des Westens. Wissenschaftler oder andere Persönlichkeiten aus den damaligen sozialistischen Ländern waren daran nicht beteiligt. Es ist also durchaus normal, daß die Wirkung des Brandt-Berichts aus der Sicht des Westens und von dieser Sicht verpflichteten Autoren betrachtet wird. So kann man bei Willy Brandts Standpunkt bleiben, der auch heute kaum zu entkräften ist, die Nord-Süd-Problematik werde die Probleme zwischen Ost und West überlagern. Ein Vorwurf allerdings ist dem Band nicht zu ersparen: In den meisten Beiträgen wird (wie schon im Brandt-Bericht) zu wenig zwischen den sehr unterschiedlichen Regionen und Entwicklungsländern differenziert.

Auf ein Vorwort von Bundespräsident Johannes Rau und eine Einleitung des Herausgebers (von Nuscheler ist u. a. bei J. H. W. Dietz ein achtbändiges Handbuch der Dritten Welt erschienen) folgen fünf inhaltlich relativ abgegrenzte Teile. Sie beginnen mit Erinnerungen an Brandt von drei prominenten Weggefährten, Richard von Weizsäcker, Egon Bahr, Ingvar Carlsson. Drei Handschriften, die sich nicht gleichen. Sie sind mit Gewinn zu lesen. Keiner versucht, aus Brandt eine Ikone zu machen.

Dem folgt ein Rückblick auf den Brandt-Bericht. Unter den sechs Autoren dieses Teils ist besonders bemerkenswert die 23jährige Theologiestudentin Katrin Stückrath, bereits im März 1999 interviewt von Ute Koczy, Landtagsabgeordnete in Nordrhein-Westfalen (vermutlich SPD wie auch zahlreiche weitere Beteiligte). Die einzige nicht prominente Persönlichkeit in einer recht erlauchten Gilde hat eine sehr nüchterne und praxisbezogene Sicht auf die Resultate von zwei Jahrzehnten Entwicklungspolitik oder das, was in den westlichen Industrieländern dafür ausgegeben wird. Die Ansichten der Katrin Stückrath sind sicherlich deshalb so realistisch, weil sie in Ländern der Dritten Welt vor Ort an diversen Projekten mitgearbeitet hat. So meint sie:

„Der Bericht suggeriert eine Harmonie, die den Blick für die Realitäten verstellt. Die Reichen müssen keine Opfer bringen, keine wirklichen Opfer. Die Sprache appelliert an den guten Willen, das hat aber irgendwie nicht gefruchtet ... In den 20 Jahren scheint sich nicht viel geändert zu haben, mit Ausnahme von Akzentverschiebungen im Bereich des Ost-West-Konflikts. Es bleiben die großen Herausforderungen Armut, Umweltschutz und sozialer Friede ... Es ist nicht nötig, einen neuen Bericht wie diesen zu verfassen, denn viele der beschriebenen Inhalte haben sich ja nicht geändert.“

Eine ebenso knappe und klare wie umfassende Bilanz von zwei Jahrzehnten Entwicklungspolitik, gemessen an den Empfehlungen des Brandt-Berichts, zieht im Anschluß der Herausgeber des Buches, Professor für internationale Politik an der Universität Duisburg und der Stiftung für Entwicklung und Frieden eng verbunden. So stellt Nuscheler zum Stichwort Bekämpfung der Weltarmut fest, daß die Zahl der „absolut Armen“ auf über 1,3 Milliarden Menschen angewachsen ist. Die geforderte „umfassende Initiative“ für die Armutsregionen sei ausgeblieben.

Zur Forderung nach Beseitigung des Hungers heißt es, die Zahl der Hungernden sei Ende 1999 auf über 800 Millionen geschätzt worden, die Empfehlungen des Brandt-Berichts zu diesem Punkt seien sämtlich folgenlos geblieben. Auch die Entwicklungsfinanzierung wird negativ eingeschätzt. Es habe immer weniger Hilfe gegeben, die OECD-Länder hätten Ende der 90er Jahre lediglich 0,2 Prozent ihres Bruttosozialprodukts aufgebracht, die USA hätten jegliche Reform von IWF und Weltbank verhindert. Alles in allem ein außerordentlich negatives Bild. Daran kommen auch die anderen Autoren des Buches nicht vorbei. Es ehrt den Herausgeber, daß er, diese Tatsachen vor Augen, den Sammelband in Angriff genommen hat, zumal ja auch der Ausblick von den unbestreitbaren Fakten beeinträchtigt wird.

Die folgenden drei Teile des Buches ziehen eine aktuelle Bilanz des Bemühens um Friedenssicherung und haben Aufgaben für das 21. Jahrhundert im Blick. Hier sind die Ansätze oft akademisch und bleiben hinter Erkenntnissen der nationalen und internationalen Öffentlichkeit zurück. Beispielsweise findet man nur diplomatisch verbrämte Zweifel an der Zweckmäßigkeit und Rechtmäßigkeit des NATO-Krieges im Kosovo (ohnehin ein Thema unter anderen) statt einer völkerrechtlich fundierten Analyse.

Angesichts des Versagens der Entwicklungspolitik der westlichen Industrieländer sind Allgemeinplätze, wie sie beispielsweise Dirk Messner gehäuft bietet, eher zur Vernebelung des Themas denn für einen fundierten Ausblick geeignet:

„Wichtig wäre, daß die sinnvolle Orientierung der EZ (Entwicklungszusammenarbeit, KHA) auf Felder zur Steuerung globaler Trends und zur Lösung von Weltproblemen nicht zur kontraproduktiven Vernachlässigung anderer Bereiche führen darf, die für die interne Entwicklung der Länder (und damit langfristig auch für deren generelle Problemlösungskompetenz und Kooperationsbereitschaft in der Global Governance-Architeltir) von Bedeutung sind.“

Anders dagegen die Folgerungen aus dem Brandt-Bericht, wie sie beispielsweise von Ingomar Hauchler gezogen werden. Sie sind eindeutig und beschönigen nicht:

„Die Politik vermag noch weniger als früher zu ,führen‘. Sie wird vielmehr ihrerseits geführt. Sie ist mehr und mehr zum reinen Dienstleister des global agierenden Großkapitals geworden ... Die Politik - so stehen heute die Zeichen - regrediert zu einer scheindemokratischen, von den Massenmedien bestimmten Veranstaltung, die am Gängelband transnationaler Ökonomie geführt wird ... Tatsächlich ist Global Governance nicht in Sicht. So wie Politik heute verfaßt ist und agiert, ist sie unfähig, die globalen Herausforderungen zu bestehen.“

Der Vorzug dieses Sammelbandes besteht darin, den Blick auf die weitgehend mißlungene Entwicklungspolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte - Worte statt Taten - und für die Notwendigkeiten von heute zu schärfen: Annäherung an den christlichen Zehnten von den reichen Völkern für die ärmsten Völker. Sicherlich ist es nützlich, sich dem Themenkreis von der zum Teil recht unterschiedlichen Warte der Autoren zu nähern, also auf diese Weise auch das Für und Wider von Möglichkeiten und Maßnahmen zu erörtern. Das Fazit ist ernüchternd. Optimismus, wie er Willy Brandt bisweilen recht unverbindlich zu eigen war („Demokratie wagen!“), wird kaum verbreitet. Sein Credo wird in Ehren gehalten: Ohne Frieden ist alles nichts.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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