Eine Rezension von Horst Wagner

Liebeserklärung mit dokumentarischem Wert

Dorothea Melis (Hrsg.):
Die Berlinerin - Fotografien und Geschichten
Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2000, 280 S., 250 Fotos

Wer oder wie ist sie - die Berlinerin? Tucholsky bedichtete sie einst als „Mutterns Beste“, als „Venus der Spree - wie so fleißig liebst du, wie pünktlich dabei“. Eva Windmöller, ehemalige „Stern“-Korrespondentin in New York und in der DDR, eine der 18 Textautoren dieses großzügigen Bandes, nennt schlagfertig-kess und nüchtern-realistisch als hervorstechende Eigenschaften. Den „echtesten Typ der Berlinerin“ habe sie im Ostteil der Stadt kennengelernt. „Sie waren anders als unsere Freunde im Westen ...“ Sie wären sowohl fordernder als auch unverkrampfter und kumpelhafter, „eher bereit, Schwächen wegzulachen ... Das Fehlen von Konkurrenz und Statusdenken brachte die Erotik mehr zum Knistern ...“ Aktuell passend zur „Leitkultur“-Debatte betont Herausgeberin Dorothea Melis die multinationale Herkunft, den multikulturellen Charakter der Berlinerinnen: „Vor hundert Jahren kamen sie aus Schlesien und Rußland, davor aus Frankreich, später aus Sachsen, Schwaben und aus der Türkei, heute von überall.“

So vielgestaltig und differenziert wie die Berlinerin ist dieser Bild-Text-Band als eine an sie gerichtete (so D. Mehlis in ihrem Vorwort) „Liebeserklärung mit dokumentarischem Wert“. Jede bzw. jeder der 13 Fotografinnen und Fotografen hat ihr (sein) eigenes Kapitel, in dem sie (er) ihre (seine) ganz eigene Sichtweise und Vorliebe offenbart. Es sind Prominentenporträts und Alltagssichten, groß aufgefaßte Gesichter und Menschen in Stadtlandschaften. Der aus Wilhelmshaven stammende Rudi Meisel beginnt den Band mit „Die Engagierten“. Hier finden wir Frauen im beruflichen, aber auch privaten Umfeld: die Gastronomin und die Journalistin, die Tierärztin und die Rechtsanwältin, die Bildhauerin Iris Kettner wie die Ausländerbeauftragte Emine Demirbükken. Helga Paris, Mitglied der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg, bevorzugt groß aufgefaßte Einzel- und Gruppenporträts und hat „Die Unbekannten“ fotografiert: ungenannte Frauen, auch zusammen mit Männern, bei der es ihr ganz auf Ausdruck und Stimmung ankam. Barbara Klemm von der „FAZ“, ebenfalls Akademiemitglied, hat „Alltagsbilder“ - fotojournalistische Momentaufnahmen - beigesteuert: Mutter mit Kleinkind in Berlin-Mitte, eine Modenschau in Kreuzberg und eine Brigadefeier im ehemaligen VEB Treff-Modelle, eine türkische Hochzeit, ein Blick hinter die Kulissen des Friedrichstadt-Palastes und einen auf den „Strich“ in der Oranienburger Straße und manches mehr. Es folgen wieder nah aufgefaßte Porträtaufnahmen: Renate von Mangoldt, Fotografin beim Literarischen Colloquium Berlin, stellt uns „Die Schreibenden“ vor; zumeist jüngere, noch nicht so bekannte Schriftstellerinnen und Kritikerinnen. In dem von der Düsseldorfer Fotografin und Designerin Steffi Kraenitz besorgten Kapitel „Künstlerinnen“ finden wir dann wieder mehr die Prominenten wie die Schriftstellerin Leonie Ossowski, die Malerin Nuria Quevedo oder die Museumsgründerin Charlotte von Mahlsdorf. Auch vorwiegend bei Prominenten bleibt die frühere „Sibylle“-Fotografin und jetzige Professorin für Fotografie an der Fachhochschule Hamburg, Ute Mahler, in ihrem Kapitel „Die Bekannten“, worunter sie sowohl Politikerinnen wie Regine Hildebrandt, Andrea Fischer oder Sahra Wagenknecht als auch die Schriftstellerin Christa Wolf oder die Schauspielerin Käthe Reichel versteht. Ihre sehr individuellen Porträt-Großaufnahmen und Milieustudien gehören für mich zum Beeindruckendsten, was der Band zu bieten hat. „Großstadtgesichter“ ist das von der aus Braunschweig stammenden Reise- und Porträtfotografin Anna Neumann gestaltete Kapitel überschrieben. Es sind eigenwillige Porträtaufnahmen im zumeist städtischen Milieu, wie das der Ministerin Christine Bergmann im Areal „Weiberwirtschaft“, der Polizistin Aynur Senogla am Kottbusser Tor oder der Publizistin und Ex-Prostituierten Alice Frohnert vorm Fernsehturm. Gleichfalls in Berliner Landschaften fotografiert sind die „Stadtkinder“ von Anette Hauschild sowie die „Mädchenjahre“ von Anne Schönharting. Die beiden Fotografinnen, die zur Agentur „Ostkreuz“ gehören, stellen uns junge und jüngste Berlinerinnen in typischen Milieustudien vor. Ganz eigenartig und unverwechselbar sind die Porträts von Sibylle Bergemann, ebenfalls zur Agentur „Ostkreuz“ gehörendes Akademiemitglied. Unter ihren „Engeln in der Stadt“ finden wir Nina Hagen und ihre Mutter Eva-Maria, Katharina Thalbach, Meret Becker und Angelica Domröse, die Modedesignerin und Kleidersammlerin Josefine Edle von Krepl wie die Fernsehjournalistin Maybritt Illner und viele andere mehr oder weniger Prominente, die hier gleichsam in einer „engelhaften“, leicht-beschwingten oder verträumt-verklärten Pose eingefangen sind. Ähnlich, aber auch ganz anders die „Tagträume“ des 1969 in Berlin geborenen, aus der Meisterschule von Arno Fischer stammenden Jonas Maron. Er zeigt uns nah aufgefaßte Porträts wie das von „Nadja“, aber auch fast leere Stadtlandschaften wie den noch unbebauten Potsdamer Platz von 1992, auf dem ein kleines Mädchen durch hohes Gras läuft. Die von ihren Bildbänden her bekannte Nelly Rau-Häring zeigt in „Gemeinsamkeiten“ Elvis-Fans beim deutsch-amerikanischen Volksfest und die Oben-ohne-Schönheit beim Christopher-Street-Day, aber auch die Dame mit großem Hund auf dem Kurfürstendamm und die Türkin vom Winterfeldplatz. Der Berliner Reportage- und Porträtfotograf Roger Melis beschließt den Bildteil mit „Die Selbstbewußten“. Worunter er - wieder in groß aufgefaßten Einzelporträts - die Gastronomin und die Frauenärztin ebenso versteht wie die Journalistin Liane von Billerbeck, die Schriftstellerin Monika Maron oder die Soziologin Irene Runge: Gesichter voller Bestimmtheit und Ausdrucksstärke, von Nachdenklichkeit und immer wieder von Schönheit ganz eigener Art.

Die Texte stehen nicht direkt zu den Bildern. Zwischen den Fotokapiteln plaziert, runden sie das Bild von der Berlinerin ab. Es sind selbständige kleine Geschichten oder Minireportagen, persönliche Erinnerungen, kurze Porträts von guten Bekannten oder Schilderungen von zufälligen Begegnungen. Auch sie zielen weniger auf das Allgemeine, sondern mehr auf das ganz Individuelle und doch zugleich Typische. Alles in allem ein Bildband, den man immer wieder gern zur Hand nimmt, um sich in die Studien zu vertiefen, sich an Gesichtern, an Menschen zu erfreuen, und der - bedenkt man Umfang und hervorragende Ausstattung - auch durchaus preiswert ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite