Eine Rezension von Ulrich Kalinowski
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An- und Einsichten eines Jahrhundertzeugen

Friedrich-Martin Balzer (Hrsg.):
Wir sind die letzten - fragt uns
Kurt Goldstein - Spanienkämpfer, Auschwitz- und Buchenwaldhäftling.
Pahl-Rugenstein Verlag Nachfolger, Bonn 1999, 253 S.

In einem Zeitungsbeitrag hat Kurt Goldstein sich im Oktober 2000 mit den Ursachen des Rechtsextremismus im Osten Deutschlands beschäftigt. Es ging um die Frage, ob seine Wurzeln hauptsächlich in der DDR liegen, wie viele behaupten. Goldsteins Antwort in Kurzfassung: Nein, er kann und will nicht behaupten, daß es in der DDR einen makellosen Antifaschismus gab und 17 Millionen sich vorbehaltlos zu ihm bekannten. Er hatte seine Defizite und Fehler, wovon der größte die Auflösung der VVN 1953 durch die SED-Führung mit der aberwitzigen Begründung war, daß der Nazismus in der DDR mit Stumpf und Stiel ausgerottet sei. Aber - und jetzt der große Einwand des Kurt Goldstein - daß heute 14-, 16- oder 18jährige, für die die DDR maximal eine schwache Erinnerung sein kann, Ausländer durch die Straßen jagen, auf Menschen eintreten, bis ihnen der Schädel platzt, hätte seine Ursachen im Hier und Heute. Im Werteverlust der Menschen, in sozialer Unsicherheit, in Aggressivität und Ellenbogenmentalität der Gesellschaft, in einer Geschichte der alten BRD, deren Aufbau ohne Hitlers Eliten undenkbar wäre und in der Antikommunismus statt Antifaschismus dominierend war. Ein Jahrhundertzeuge - Kommunist, Deutscher, Jude - steht zu seinem Leben.

Über Kurt Goldstein ist bei Pahl-Rugenstein ein Buch erschienen. Titel: Wir sind die letzten -fragt uns. Kurt Goldstein - Spanienkämpfer, Auschwitz- und Buchenwaldhäftling. Es enthält Reden und Schriften zwischen 1974 und 1999. Vorangestellt ist eine längere autobiographische Einführung, aufgezeichnet im Jahre 1986, erstmals veröffentlicht 1990. Gerade in ihr ist nachzulesen, wie sich in einem Leben Prinzipienfestigkeit und Lernfähigkeit verbinden können. Einer, der 1928 mit 14 Jahren Kommunist wurde, schreibt da noch zu DDR-Zeiten: „Für den Sozialismus gibt es kein verbindliches Modell. Jetzt sind wir zu der Erkenntnis gekommen, daß das sowjetische Modell nicht einfach auf uns übertragbar ist, ja, daß der Versuch ein historischer Irrtum war.“ Oder: „Die Demokratisierung der Gesellschaft ist die Grundlage dafür, dem Individuum die Freiheiten zu geben, die es braucht, um die in ihm wohnenden schöpferischen Kräfte freizulegen. Wenn wir Sozialismus machen wollen, wie er sein muß, dann müssen wir den Menschen die Freiheit geben, ihre ganze schöpferische Kraft in diese Entwicklung zu geben. Da gibt es gegenwärtig noch große Störfaktoren.“ Oder: „Meiner Meinung nach haben wir es nicht geschafft, uns von marxistischen Positionen aus mit unserer ganzen Geschichte differenziert genug auseinanderzusetzen ... Die Darstellung der jüdischen Geschichte, Kultur, Ursachen von Antisemitismus und so weiter paßte nicht in das stalinistische Propagandaschema ... Man kann uns wahrscheinlich mit Recht vorwerfen, daß wir darüber viele unwissend gelassen haben.“

Wer mehr als einen Blick auf die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts werfen, Ursachen für Entwicklungen und Fehlentwicklungen erkennen und ganz nebenbei noch ein erstaunliches Leben kennenlernen will, ist mit diesem Buch gut beraten. Man muß nicht die Ansichten des Kurt Goldstein immer und überall teilen, aber zur Kenntnis und ernst nehmen sollte man sie schon. Gerade heute, gerade in diesem Land, in dem der Rassismus seinen Platz in der Mitte der Gesellschaft hat und vor allem dort und nicht nur auf den Straßen bekämpft werden muß.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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