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Bernd Heimberger

Am Abend

Eine Lesung mit Carola Stern

Oft ist sie forsch aufgetreten. Manchmal zu forsch. Manchen viel zu forsch. Die Forschheit hat sie nicht abgelegt. Auch jetzt nicht. Jetzt trägt sie Trauer. Sichtbar und spürbar.

Fast unbemerkt hat Carola Stern am fast leeren Lesetisch Platz genommen. Das Publikum bleibt im Gespräch miteinander. Die Gesellschaft nähert sich dem Viertel nach 20 Uhr. Die Zuhörer in der Berliner „Inselgalerie“, Inselstraße 13, sind eine miteinander vertraute Gemeinschaft. Es sind mehr gekommen, als sich meist zu Lesungen und Gesprächen einfinden. Wie immer Frauen, Frauen, Frauen. In der von Ilse Dorfstecher verantworteten Galerie stellen bevorzugt Künstlerinnen aus. Als Frauen-Galerie in der Szene bekannt, will sich Dorfstecher nicht auf eine Frauen-Galerie festlegen lassen.

Stern, alleingelassen, hinter dem Tisch, was ja immer auch bedeutet vor dem Tisch, setzt die Brille ab. Sie sieht nicht das Publikum. Sie sieht nicht vor sich hin. Wenn, dann sieht sie in sich hinein. Anwesend abwesend. Ihren Geburtstag, den fünfundsiebzigsten, hat die gebürtige Ahlbeckerin ohne ihren Mann feiern müssen. Seit einem dreiviertel Jahr ist Carola Stern Witwe. Über dem schwarzen Kleid mit der Halsschleife trägt sie unpassend eine Jacke mit kräftigen Rot-Blau-Tönen. Ein Schutz vor erwarteter Kühle? Ein Schutz der Trauernden, um die Teilnehmenden dezent zu distanzieren?

Carola Stern, die Historikerin und Publizistin mit den entschlossenen und entschiedenen Meinungen und Urteilen, weiß, worauf sie sich eingelassen hat. Kaum begonnen mit dem Abend, der ihr Abend werden soll, sagt sie: „Das mit den Frauen geht zu weit!“ Es geht an diesem Abend, nun auch bei Stern, um die Frauen um Brecht. Die Autorin hat ein Buch mitgebracht, das den Titel hat Männer lieben anders. Stern hat das Buch nicht auf dem Tisch. Zunächst läßt sie sich nicht vom Thema abbringen, denn die Beziehung Brecht-Weigel ist das Thema. Das heißt ohne Umschweife auf die „Rumtreiberei im Frauenwald“ zu sprechen zu kommen, die im Falle des B. B. nicht bloß festzustellen und hinzunehmen ist. Stern bringt zur Sprache - das ist die passende Umschreibung für die „Lesung“ genannte Veranstaltung. Die Autorin hat ihren Vortrag gut aufgebaut. Erfahrung eben! Erklärend, erzählend lesend unterhält sie die Zuhörer wie eine Großmutter, die bei den Enkelkindern mit einer fesselnden Geschichte alle Aufmerksamkeit gewinnen will.

Die stiller gewordene Carola Stern sieht die Brecht-Frauen-Geschichte nicht durch die dicke feministische Brille einer Sabine Kebir. Auch die dröge Reduktion aufs Substantielle eines Werner Hecht ist ihr fremd. Die Verfasserin ist auch Feuilletonistin. Stern gesteht, das Thema gestattet und fordert eine „gewissenhafte Phantasie“. Mit der beeindruckt die lesend-erzählende Erklärerin. Sie hat sich festgelegt. Fest steht: In der Berliner Spichernstraße begann 1923 die „Lebensfreundschaft“ der 23jährigen Wienerin Helene Weigel und des zwei Jahre älteren, verheirateten Bertolt Brecht aus Augsburg. Carola Stern will die lächelnde Erzählerin sein und ist es. Wieder und wieder vergewissert sie sich der Resonanz des Publikums. Jedes Lächeln und Lachen stärkt sie. Allerweltsverallgemeinerungen, augenzwinkernd geäußerte Anti-Männer-Meinungen haben leichtes Spiel bei der dominierenden weiblichen Zuhörerschaft. Ist die Vortragende tatsächlich auf den Zuspruch angewiesen?

Widerspruch, ist ja bekannt, konterte sie einst gern und heftig. Wie widersprüchlich ist die Sternsche Brecht-Frauen-Version? Carola Stern besteht auf der Subjektivität ihrer Version, die sie doch als objektiv verstanden wissen will. Das wird in dem Moment offenbar, in dem sie sich zurücklehnt, um zu entspannen, wie sie sagt. Zum Gespräch aufgefordert, ist nun der Platz fürs Publikum da, mit Fragen zu kommen. Die kommen sofort wie die klassischen Stern-Konter gegen Kritik. Die Historikerin verteidigt ihre zurückgewiesene Äußerung, daß Weigel-Brecht 1948 „in die DDR“ kamen. Nahezu widerspruchslos nimmt sie die Erinnerungen anwesender, ehemaliger Mitarbeiter des Berliner Ensembles hin, die sowohl auf die „Bösartigkeit der Weigel“ verweisen wie darauf, daß die Weigel ihre „einzige große Chefin“ war.

Carola Stern, die Republikflüchtige und erste Ulbricht-Biographin, läßt sich gern ablenken und lenkt selbst gern ab. Zu Fragen über das Engagement der jungen Frau in der DDR kommt es nicht. Also auch nichts über ausgehaltene und ausgestandene Ängste. Wenig Verständnis zeigt Stern unverändert für die ängstliche Anna Seghers, die dem angeklagten Chef des Aufbau-Verlages, Walter Janka, in entscheidender Stunde nicht nützlich genug zur Seite stand. Statt bei Walter Ulbricht zu intervenieren, hätte Seghers bei Staatsanwalt und Richter Einspruch einlegen müssen. So Stern. Hat sie vergessen, wer die höchste Instanz im Staate DDR war und ihn so faul machte? Welche Irrtümer die Historikerin lebte, ist hier nicht die Frage. Carola Stern hat die Rolle der Brecht-Expertin gespielt, die wahrlich nicht ihre ist. Dennoch hat sie ihren Part respektabel gegeben. Am überzeugendsten ist für Stern-Erfahrene an diesem Abend die Frau, die ihren Verlust nicht verbirgt. Frei schon von der Sorge, eine Verliererin zu sein? Wie die Seghers, wie die Weigel? Abschließend fragt die vom Publikum Befragte das Publikum: Was bleibt denn? Zum Beispiel von Seghers, von Weigel ...? Es scheint, als spräche aus der Frage doch die Sorge der Carola Stern, zu schnell aus dem Gedächtnis der nächsten Generation getilgt zu werden. Darüber zu sprechen ist der Abend nicht der Abend. Ohnehin ist es immer leichter, über die Ängste anderer als über die eigenen zu reden. Carola Stern hatte wieder einen Abend in der Öffentlichkeit, der wie weit weg war von der Öffentlichkeit, die Carola Stern einst hatte?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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