Analysen · Berichte · Gespräche · Essays

Klaus Körner

Tarnung und Schmuggel im
Kleinformat

Aus der Geschichte des innerdeutschen Broschürenkrieges (1950-1960)

Der Kalte Krieg wird deutsch

Als Beginn des Kalten Krieges wird von vielen Churchills berühmte „Eiserner Vorhang“-Rede vom 5. März 1946 in Fulton/Missouri angesehen. Für andere ist es die „Truman Doktrin“ vom 12. März 1947. Für die Presse der besiegten Deutschen war der Kalte Krieg schon deshalb kein Thema, weil die Direktive Nr. 40 des Alliierten Kontrollrats vom 12. Oktober 1946 ihnen verbot, „Gerüchte zu verbreiten, die zum Ziele haben, die Einheit der Alliierten zu untergraben oder welche Mißtrauen oder Feindschaft des deutschen Volkes gegen eine der Besetzungsmächte hervorrufen“. Außerdem meinten viele Westdeutsche, der Kalte Krieg in Deutschland sei ein Streit unter den Alliierten, der sie nichts angehe. Als es in der Zeit der Berliner Blockade darum ging, die Berlin-Hilfe zu verstärken, wollten die Westdeutschen auch keine Sondersteuer „Notopfer Berlin“ zahlen.1

Die ersten publizistischen Maßnahmen des Kalten Krieges in Deutschland waren kleine Schriften der Besatzungszeitungen „Tägliche Rundschau“ und „Neue Zeitung“. Erst nach der zweifachen Staatsgründung wurde von den Deutschen 1950 ein kämpferischer Einsatz für die entsprechende Seite erwartet. Die hieß Beteiligung an der Blockbildung und Teilnahme am Propagandakrieg. In eine militärische Auseinandersetzung wollten die ehemaligen Alliierten aber durch die Deutschen nicht hineingezogen werden. Zu den Einsichten, die sowohl die Amerikaner als auch die Sowjets inzwischen gewonnen hatten, gehörte die Erkenntnis, daß die verordnete Umerziehung nur begrenzte Wirkungen hatte und jede politische Werbung auf Bekanntem aufbauen und die politische Kultur der Zielgruppen berücksichtigen mußte. Die großen drei Gruppierungen oder Lager in Deutschland nach 1945 waren zum einen Kommunisten, zum anderen Sozialdemokraten und zum dritten Bürgerliche, Konservative, Katholiken und Liberale.2 Das für Jahrzehnte bestimmende „nationale Lager“ war von der politischen Bühne verschwunden. Zum mentalen Überhang, zum historischen Erbe der Kommunisten gehörten die Erfahrungen aus dem Kampf gegen die Weimarer Republik und dem Widerstand und Exil der Jahre 1933 bis 1945, insbesondere die seit 1935 favorisierte Volksfronttaktik. Die Sozialdemokraten waren stolz darauf, im Exil Nachrichten über das „Reich“ gesammelt und Unmengen von Tarnschriften dorthin verbracht zu haben, selbst wenn der Erfolg gering gewesen war. Die Konservativen und Liberalen hatten teils im Widerstand gearbeitet, mehrheitlich mit dem NS-System kollaboriert. Hier gab es einschlägige Erfahrung aus der NS-Presse, PK- und Goebbels-Propaganda. Als wichtigstes Printmedium kam 1950 für den Kalten Krieg in Deutschland vor allem ein Medium kleinen Formats in Betracht: die Broschüre. Der Import von westlich bzw. östlich lizensierten Büchern, Broschüren, Zeitungen oder Zeitschriften über die Zonengrenze war schon 1948 wechselseitig verboten worden.

Kleinformatige Schriften als eigenständiges Medium

„Nichts gegen Bücherschränke“, schreibt Johannes R. Becher in seinem „Lob des kleinen Formats“, „aber oft wollen wir beim Gehen oder Stehen aus einem Buch uns etwas vorlesen, und es sollte nicht nur den geistlichen Herren gestattet sein, aus ihrer Tasche das Alte oder Neue Testament oder Gebetbücher in solch handlichen Formaten zu unser aller Neid hervorzuholen.“3 Die Kleinschriften, Flugschriften oder Broschüren unterscheiden sich nicht nur durch kleines Format und geringen Umfang von „ordentlichen“ Büchern. Sie bilden ein eigenständiges Medium. Im kirchlichen Bereich haben Kleinschriften immer eine große Rolle gespielt. Politische Flugschriften oder Broschüren sind dagegen meist aus aktuellem Anlaß geschrieben; sie gehören zum Tagesschrifttum, ihnen wird eine besonders modische Gestaltung zugeschrieben.4 In der Regel werden sie außerhalb des Buchhandels vertrieben und gehören damit zur sogenannten grauen Literatur. Zeitschriften unterscheiden sich von Broschüren durch ihr regelmäßiges Erscheinen. Doch können Zeitschriften wie Flugschriften hergestellt und vertrieben werden. Durch falsche Umschläge oder vorsichtige politische Argumentation können sie zu politischen Tarnschriften werden.

Die Zahl der Broschüren und Zeitschriften, die zwischen 1950 und 1960 im innerdeutschen Broschürenkrieg eingesetzt worden sind, läßt sich nur grob auf vielleicht 20 000 Titel schätzen. Sie sind selbst in Spezialsammlungen nur unvollständig erfaßt. Die Beschäftigung mit diesen Schriften gehört zur „Archäologie der Popularkultur“. Über die Wirkung bei den Zielgruppen läßt sich wenig sagen, da es hierzu keine Wirkungsforschung gibt, sondern nur Indizien. Doch lassen sich diese Schriften als Dokumente der politischen Kultur der Hersteller interpretieren.

Ein handlungsfähiger Staat Deutschland existierte 1950 nicht mehr. Jedoch vermittelte die Idee von der Kulturnation das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und die Erwartung baldiger Wiedervereinigung. Anders als Korea war Deutschland auch nie völlig gespalten. Es gab zwei miteinander verbundene Meinungsmärkte. Die DDR war ein im Prinzip unterversorgter und geschlossener Markt, in den man hineinwirken konnte, wenn es gelang, die „mechanischen“ Hindernisse zu überwinden. Die DDR war auch ein Staat mit einem Loch in der Mitte, der Insel Westberlin, über die der geschlossene Markt geöffnet werden konnte. Die Bundesrepublik bildete trotz aller Manipulation einen im Prinzip offenen und überversorgten Meinungsmarkt. Selbst zur Zeit des KPD-Verbots erschienen 1958 noch 42 KPD-Zeitungen und Zeitschriften.

Tarnung und Schmuggel von Broschüren und Zeitschriften über die innerdeutsche Grenze gingen auf verschiedene Weisen vonstatten. Die einfachste Verbreitungsart war die Gratisausgabe an der Sektorengrenze. An den Grenzkontrollstellen zur DDR stellte man von östlicher Seite „Devotionalientische“ mit aktuellen Broschüren und Zeitschriften zur Gratismitnahme auf. Diese wurden auch in S-Bahn-Zügen, die nach Ostberlin fuhren oder in den sogenannten Interzonenzügen nach Westdeutschland ausgelegt. Spektakulär, aber nicht ganz zielgenau, war der Versand von West nach Ost aus der Luft durch Ballons. Das war eine vom Ostbüro der SPD erprobte und später von der Psychologischen Kriegführung (PSK) der Bundeswehr weitergeführte, vom Gegner schwer nachzuahmende Methode: An der Grenze wehte meist Westwind. Für den Nahbereich der Grenze wurde nach Art der Frontpropaganda im Zweiten Weltkrieg mit Flugblatt-Raketen gearbeitet.

Nur begrenzt nutzbar war das Element Wasser: Die PKS landete Bälle mit der Aufschrift „Freiheit kennt keine Mauer“ an den Küsten Mecklenburgs. Eine gewisse politische Vorsicht war die Voraussetzung für die legale Arbeit der KPD/DKP-eigenen Buchhandelskette in Westdeutschland. Die von beiden Seiten am häufigsten verwendete Methode, Schriften zielgenau auf die andere Seite zu bringen, war der Versand als Standardbrief mit der Post. Als am aufwendigsten erwies sich das von der SPD praktizierte Zwei-Stufen-Verfahren: Das Material wurde zuerst getarnt über die Grenze gebracht und erreichte dann über einen geheimen Verteilerapparat die Leser.

Weitere Möglichkeiten bot die besondere Situation Berlins. Bis 1991 passierten etwa 500 000 Menschen die Grenze. DDR-Bürger konnten normale West-Zeitungen als Abholabonnement für Ostgeld beziehen. Viele DDR-Hausfrauen wollten aber gerade nicht die politischen Blätter lesen, sondern bevorzugten die „Grüne Post“ oder den „Playboy“, die unter dem Hüfthalter als Einzelexemplare über die Grenze geschmuggelt wurden. Selbst nach dem Mauerbau war es noch möglich, größere Objekte über die Grenze zu schaffen, sogar zerlegte Autos. Die kostengünstigste und solideste Art der Aufklärung war in den fünfziger Jahren der Bau der Amerika-Gedenkbibliothek in unmittelbarer Nähe der Sektorengrenze. Die Leser machten sich durch Lektüre in Westberlin nicht strafbar.

Drei Zeitschriften, die im innerdeutschen Broschürenkrieg zwischen 1950 und 1960 verbreitet wurden, sollen etwas genauer vorgestellt werden. Die Besonderheit der von der DDR finanzierten Kulturzeitschrift „Heute und Morgen“ bestand darin, daß sie weder offen für die DDR noch den Sozialismus war, sondern nur für ein breites Bündnis, Verständigung und den Frieden. Das galt in den fünfziger Jahren im Westen als politisch gefährliche Volksfrontpropaganda. Die Bundesrepublik setzte sich mit dem Kommunismus in zwei Formen auseinander, einmal mit dem klassischen Antibolschewismus, wie es ihn in Deutschland nach 1918 und verstärkt nach 1933 gegeben hatte, und zum anderen in der sozialdemokratischen Variante, der die DDR-Gesellschaft „kein wahrer Sozialismus“ war. Für die erste Richtung steht das Satireblatt „Tarantel“, für die zweite das Organ des Ostbüros „Einheit“.

Eine Monatszeitschrift für Kunst, Literatur, Wissenschaft und Zeitgeschehen:
„Heute und Morgen“

Der als Politiker erfolgreichste deutsche Schriftsteller nach 1945 war Johannes R. Becher. Von ihm stammt das Konzept für den Aufbau einer Art gesamtdeutscher kulturpolitischer Volksfrontorganisation, des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Sein Mann für die Arbeit in den Westzonen war der Altkommunist Johann Fladung, der im englischen Exil den Freien Deutschen Kulturbund geleitet hatte. Als Folge der Neuorganisation Deutschlands im Jahre 1949 in zwei Staaten ergab sich für Fladung die Aufgabe, im Westen eine eigene Kulturbundzeitschrift zu gründen. In einer Zeit des großen Zeitschriftensterbens ein neues Objekt zu starten konnte nur mit massiver finanzieller Unterstützung der DDR gelingen. Im Januar 1950 erschien die erste Ausgabe der neuen Zeitschrift Kulturaufbau im Illustriertenformat. Der erste Artikel „Der schönste Tag des Jahres 1949“ stammte von der Schriftstellerin Anna Seghers und schilderte den Weltfriedenskongreß in Paris. Der zweite Beitrag war ein Auszug der Rede von Johannes R. Becher zur Eröffnung des zweiten Bundestages des Kulturbundes über das Thema Frieden und Kultur. Ein Bericht von der zweiten Deutschen Kunstausstellung in Dresden folgte. Die nächsten Hefte wurden lebendiger und leichter gestaltet: mehr Fotos und Abbildungen, eine Witzseite, eine Schachecke und Anzeigen. Ab dem vierten Heft stand im Impressum statt Kulturbund die Verlagsangabe „Progreß-Verlag Johann Fladung, Düsseldorf-Stockum“. Vermutlich um das Blatt vor einer möglichen politischen Verfolgung zu schützen, setzte Fladung auch die von ihm bislang nicht genutzte britische Lizenznummer aus dem Jahr 1947 dazu, obwohl der Lizenzzwang in Westdeutschland seit September 1949 abgeschafft war. Das Blatt wurde ab 1951 noch lebendiger und enthielt verstärkt aktuelle politische Beiträge. Um nicht gleich als DDR- oder KPD-Zeitschrift abgetan zu werden, hieß die DDR meist dem westdeutschen Sprachgebrauch entsprechend „Sowjetzonenrepublik“. Der neue Titel „Heute und Morgen“ und der Untertitel „Illustrierte Monatszeitschrift“ sollten die neue Richtung unterstreichen. Das große Thema des Jahres war neben dem deutschen Kulturgespräch die Frage: Wiederbewaffung und/oder Wiedervereinigung. Die Zeitschrift veröffentlichte zwischen den abgeklärten Kulturartikeln kämpferische Aufrufe gegen die Remilitarisierung und für die Beteiligung an der Volksbefragungsaktion. Im September-Heft erschien ein kleiner Hinweis, daß die Zeitschrift ab Oktober im Oktavformat mit entsprechend vervielfältigtem Seitenumfang erscheinen werde und mit dem Abdruck des Romans von Wolfgang Joho Jeanne Peyton beginnen werde. Statt des angekündigten Heftes bekamen die Abonnenten eine Broschüre mit dem Wortlaut der Volkskammer- Erklärung von Otto Grotewohl vom 10. Oktober 1951, „Gesamtdeutsche Beratungen über freie Wahlen und einen Friedensvertrag“ ins Haus geschickt. Die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf entdeckte in der insgesamt sehr maßvollen Rede eine Beleidigung des Bundeskanzlers durch die Zwischenüberschrift auf der siebenten Seite, die da hieß: „Adenauer verschachert Blut und Leben unseres Volkes“. Fladung wurde mit seiner Verteidigung, er habe nur eine Rede dokumentiert, und die Wiedergabe einer Parlamentsrede sei nach Artikel zwölf Strafgesetzbuch straffrei, nicht gehört. Er erhielt 1953 anstelle einer Gefängnisstrafe von drei Monaten eine Geldstrafe von 500 Mark.5 Im Januar 1952 erschien „Heute und Morgen“ in neuer Form. Die Gestaltung war der Deutschen Rundschau nachempfunden. Zu den Autoren gehörten die Leipziger Ernst Bloch und Hans Meyer, der damals als bevorzugter „Reisekader“ des Kulturbundes galt. Insgesamt hatte die Zeitschrift nichts Avantgardistisches. Sie vermittelte den Eindruck einer gewissen Gediegenheit und Langeweile. Sie war das Blatt für den viel zitierten „Studienrat über 50“. Der Beitrag von Egbert Hoehl „Restaurationsbestrebungen in der gegenwärtigen westdeutschen Literatur“ im Jahre 1955 fiel schon fast aus dem Rahmen. „Ich habe schon damals kritisiert, daß die Zeitschrift sich stark unter Bündnisgesichtspunkten an das Bildungsbürgertum richtete und nicht der Arbeiterklasse zu ihrem kulturellen Ausdruck verhalf“, erinnert sich der Schriftsteller André Müller, „für den Chefredakteur Herbert Burgmüller fing die deutsche Literatur mit Thomas Mann an und endete auch mit ihm. Seine Nachfolgerin Katharina Fuchs war durch die Verwandschaft mit dem Atomspion Klaus Fuchs ,geadelt‘.“6 Ein Großteil der Auflage von 12 500 Exemplaren wurde gratis über den Kulturbundverteiler versandt.

Mit Blick auf das bevorstehende KPD-Verbot erhielt das Blatt 1956 nochmals eine neue Form. Es erschien jetzt ohne Politikteil als Zweimonatszeitschrift unter dem Titel „Geist und Zeit“. Der größte Erfolg von Kulturbund und Zeitschrift war 1958 die Organisation der Kampagne „Kampf dem Atomtod“. Doch „das Imperium schlug zurück“: 1959 erschien ein Verfassungsschutzbuch über die KPD-Kulturinfiltration: „Die trojanische Herde“. Der Kulturbund wurde im selben Jahr in Nordrhein-Westfalen verboten. Das Ermittlungsverfahren gegen Fladung wegen Staatsgefährdung mündete 1963 in eine 234 Seiten lange Anklageschrift,7 in der die Geschichte der Zeitschrift ausführlich abgehandelt wird. Auch Ostberlin schien mit dem Objekt unzufrieden. Im August 1961 wurden die Subventionen gestrichen und „Geist und Zeit“ eingestellt.

Der Stich der Tarantel

Von ganz anderer Machart war die in Westberlin für die DDR produzierte Satire-Zeitschrift „Tarantel“.

Im Frühjahr 1950 bildeten sich im Umfeld der Westberliner Tageszeitungen Gruppen, die Propaganda gegen das Deutschlandtreffen der FDJ zu Pfingsten in Ostberlin machen wollten. Eine der Gruppen traf sich auf Einladung des Grafikers Karl Willi Wenzel in einem Nebengebäude des SPD-Blattes „Telegraf“ am Bismarckplatz. Alles, was Rang und Namen unter den Pressezeichnern hatte, aber auch Anfänger wie Chlodwig Poth waren der Einladung Wenzels gefolgt, um ein politisches Satireblatt gegen die DDR zu produzieren. Rechtzeitig zum FDJ-Treffen war das erste Heft fertig. Den Namen „Tarantel“ hatte Wenzel gewählt, weil Menschen gewöhnlich wie besessen auf den Stich dieses Tieres reagieren. Auf dem Titelblatt war ein übergroßer Stalin vor der Kulisse des sowjetischen Imperiums - vom sowjetischen Ehrenmal in Berlin bis zum Moskauer Kreml - abgebildet. Vom Himmel regneten Sowjetsterne. Darüber die Zeilen: „Ein Volk! Ein Reich! - Wie früher“. Im Inneren des im Vierfarbdruck hergestellten Blattes folgten kurze Geschichten, Verse und Karikaturen. Die Resonanz war so groß, daß die US-Sponsoren beschlossen, das Blatt monatlich erscheinen zu lassen. Wenzel legte Wert darauf, daß die Zeichnungen und Witze nicht zu ironisch waren, sondern möglichst einfach („Massenlinie“). Intelligentere Sachen habe Wenzel stets abgelehnt, so der Mitarbeiter Gerhard Ruppik. „Es waren Texte von großer Dämlichkeit - eigentlich unmöglich“, erinnerte sich der Zeichner Gerhard Vogler, „es war Hetze aus vollem Herzen.“8

Die „Tarantel“ prangerte die Hohlheit der SED-Propaganda an, nahm die Versorgungsmängel aufs Korn und sagte der DDR ein baldiges Ende voraus. Beliebteste Zielpersonen waren Stalin und Ulbricht. Aber auch das schöne Leben in der Funktionärssiedlung Wandlitz wurde bunt ausgemalt. Am witzigsten war vielleicht noch ein Beitrag mit dem Titel „Chruschtschows Tischgespräche im kleinen Wodka-Saal des Kreml“, in dem geschildert wird, wie der sowjetische Parteichef sich im Zustand zunehmender Alkoholisierung von vorsichtiger Kritik am Westen zu unverhohlenen Drohungen mit völliger Vernichtung steigert.

Die „Tarantel“ erschien monatlich, die Auflage kletterte von 10 000 Exemplaren auf bis zu 30 000. Der Verlag hatte keinen eigenen Vertriebsapparat. Die Verbreitung übernahmen darauf spezialisierte Westberliner Organisationen, so der Ost-Apparat des „Telegraf“, das Ostbüro der SPD, Studentenorganisationen an der Freien Universität und die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit.9 Die häufigste Versandart war per Post. Die Hefte wurden in Umschlägen mit Absenderangaben von Ostberliner Behörden eingetütet und dann in Ostberliner Briefkästen eingeworfen. Die „Tarantel“-Redaktion arbeitete verdeckt in einer Wohnung in der Schlüterstraße in Berlin-Charlottenburg. Die Mitarbeiter hatten alle Tarnnamen von bissigen Tieren, also Bär, Wolf, Fuchs und Luchs. Der Tag begann mit der Lektüre von Ostberliner Zeitungen, die einer der Mitarbeiter am Bahnhof Friedrichstraße in Ostberlin gekauft hatte. Als Vorlagen für die Zeichnungen dienten alte Jahrgänge des „Simplizissimus“ und des „Kladderadatsch“. Die „Tarantel“ wurde nach dem Sender RIAS das bei Flüchtlingsbefragungen am häufigsten genannte Westmedium, das in der DDR verbreitet wurde.

Für den früheren Jugendfunkredakteur Hans-Peter Herz war das Blatt dennoch „ohne jeden Gebrauchswert“. „Darüber, in was für einem Staat die Leute lebten, brauchte man sie nicht aufzuklären“, erinnert sich Herz, „das wußten die auch so. Aber man mußte ihnen doch ganz praktische Ratschläge erteilen, wie sie sich verhalten sollten, etwa den Tip, in der FDJ eine Schach-Gruppe zu gründen. Das haben wir im RIAS getan. Außerdem kungelte der Tarantel-Chef mit der dubiosen Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit zusammen.“10 Diese Verbindung war auch der Grund für die Distanzierung des Gesamtdeutschen Ministeriums von der „Tarantel“. Ende der fünfziger Jahre war das erhoffte Ziel der Wiedervereinigung in unerreichbare Ferne gerückt. Die Amerikaner machten sich 1958/59 daran, die von ihnen 1950 ins Leben gerufenen, gegen die DDR gerichteten Organisationen abzuschalten. Damit brach auch das Vertriebssystem der „Tarantel“ zusammen. Anfang 1962 erschien das letzte Heft. 1967 geriet das als Presse- und Karikaturendienst weitergeführte Unternehmen mit einem gefälschten Brief Arnold Zweigs in die Schlagzeilen. Ein Jahr später wurde der Verlag aufgelöst.

Mit dem Wind nach Osten: Sozialdemokrat und Einheit

„Eine Arbeiterpartei und ein Arbeiterstaat konnten gestürzt werden nur von Arbeitern, von organisierten Arbeitern“, schreibt Stefan Heym in seinem Roman 5 Tage im Juni über den 17. Juni 1953.11 Die Sozialdemokraten fühlten sich durch die Zwangsvereinigung um ihre traditionelle Führungsrolle in den Arbeitergebieten Mitteldeutschlands gebracht. Zur Unterrichtung der Parteizentrale in Hannover und zur Organisation des Widerstandes gegen die SED hatte die SPD 1946 ein besonderes Ostbüro gegründet.12 Hier gingen genaue Berichte über die Vorgänge in der Ostzone bzw. der DDR ein. Eine der Aufgaben des Ostbüros war, nicht nur allgemein die Bevölkerung der DDR aufzuklären, sondern auch zielgerichtet auf schwankende SED-Mitglieder einzuwirken. Da konnte man nicht allgemein antibolschewistisch agitieren, sondern mußte marxistisch argumentieren und darlegen, daß in der DDR nicht der wirkliche Sozialismus, sondern ein fremdes Diktatursystem aufgebaut würde. Die große Vision war das Modell eines „dritten Weges“ zwischen kapitalistischem Westen und diktatorischem Sowjetsystem. Besondere Aktualität gewann das Thema nach Beginn der Entstalinisierung auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956. Chruschtschows Geheimrede wurde zur wichtigsten politischen Waffe des Westens. Geradezu ein Geschenk des Himmels war die politische Plattform des Ostberliner Philosophieprofessors Wolfgang Harich. Nach seiner Verhaftung veröffentlichte das Ostbüro den Text und später noch eine flammende Verteidigungsrede, die er allerdings so nie gehalten hatte. Verbreitet wurden die Texte von den Zeitschriften „Sozialdemokrat“ und „Einheit“, den Gegenstücken zu dem plumpen Antibolschewismus der „Tarantel“. Der „Sozialdemokrat“ war eine auf Dünndruckpapier hergestellte kleinformatige Zeitung, die teils mit der Post, teils mit Ballon in einer Auflage von bis zu 120 000 Exemplaren in die DDR expediert wurde. Die „Einheit“ wurde dagegen „nur“ in 10 000er Auflage auf Bibeldruckpapier hergestellt und von Ostberlin aus mit der Post an bestimmte Empfänger versandt. Die Argumentation der 50 zwischen 1954 und 1959 erschienenen Hefte ist ungewöhnlich sachlich. Zur Tarnung diente nur der Umschlag. Bereits der Untertitel auf Seite 3 gab den wahren Herausgeber, das Ostbüro der SPD, an. Das erste Heft war dem Thema „Marx kontra SED“ gewidmet, 1957 folgte „Marx kontra Lenin“. Allein 20 Hefte widmeten sich dem undogmatischen Sozialismus, wie er in Jugoslawien, Polen und Ungarn diskutiert wurde. Die wahrscheinlich erfolgreichste Einheit-Ausgabe erschien im Juni 1956 mit dem Titel „Die Entlarvung des Stalin-Terrors“. Sie enthielt den Wortlaut der Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag. Nach der Zwangsemeritierung des Philosophen Ernst Bloch widmete die „Einheit“ ihm 1958 das Heft „Die Philosophie Ernst Blochs und der menschliche Sozialismus“. Die SED fand diese Form der Agitation besonders verwerflich - und gab mit den „Sozialistischen Briefen“ eine entsprechende Zeitschrift für die SPD in der Bundesrepublik heraus. Nach 1958/59 wurde die SPD-„Einheit“ eingestellt. Das Argumentieren mit dem „wahren“ Sozialismus paßte nicht mehr zum neuen nicht-marxistischen Godesberger Programm. In der außenpolitischen Debatte des Bundestages am 30. Juni 1960 versicherte der SPD-Abgeordnete Fritz Erler: „Für uns gibt es keinen ,dritten Weg‘ zwischen Freiheit und Kommunismus.“13 Der Versand von anderen Broschüren ging aber bis 1968 weiter, 1970 wurde das Büro aufgelöst.

Die große Zeit der Agitation mit Broschüren und Zeitschriften war im Fernsehzeitalter längst vorbei. Auf die Frage, welches Medium wann die DDR am meisten gestört habe, hat der frühere Chefredakteur des Ostberliner Deutschlandsenders Prof. Dr. Georg Grasnick eine klare Antwort: „Das war die Fernsehwerbung vom SFB. Denn da wurden bei unseren Bürgern Konsumwünsche geweckt, die unser System auch langfristig nicht erfüllen konnte.“14

Quellen
1 Tusa, Ann and John: The Berlin Blockade. London 1989, S. 362 f.
2 Rohe, Karl: Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Frankfurt a. M. 1992, S. 162 f.
3 Becher, Johannes R.: Lob des kleinen Formats. In: Walter, Erhard: Kleinod der Buchkunst, Leipzig 1979, S. 7 ff.
4 Lewis, John: Printed Emphemera. The changing uses and letter forms in English and American printing, Ipswich 1962, S. 12 f.
5 Weinberg, Hanns: Nekrolog auf einen geopferten Paragraphen. In: Das Andere Deutschland 25/1953, S. 5.
6 Interview des Verfassers mit André Müller vom 8. 10. 1998
7 Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Düsseldorf, Az.: 8Js 5795/59 vom 13. 2. 1963, Nachlaß Johann Fladung
8 Mitteilung von Gerhard Vogler („van“) vom 21. 5. 1991
9 Interview des Verfassers mit Walter Schulz-Heidorf vom 21. 10. 1993. Schulz-Heidorf, Walter: Preis unbezahlbar. Die Tarantel. Heiße Lektüre im Kalten Krieg, Berlin 1997
10 Interview des Verfassers mit Hans-Peter Herz vom 20. September 1991
11 Heym, Stefan: 5 Tage im Juni. Kopenhagen 1974 (Raubdruck), S. 133
12 Bärwald, Helmut: Das Ostbüro der SPD. Krefeld 1991. Buschfort, Wolfgang: Das Ostbüro der SPD. München 1991
13 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode 1957. Stenographische Berichte Bd. 46, S. 7096 (B)
14 Interview des Verfassers mit Prof. Dr. Georg Grasnick vom 05. 07. 1995


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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