Eine Annotation von Hans-Rainer John

Suter, Martin:

Die dunkle Seite des Mondes

Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2000, 320 S.

Hier geht es um den tödlich endenden Versuch eines Mannes, in der Mitte des Lebens aus der Übersättigung durch bürgerlichen Wohlstand auszubrechen und noch einmal neu anzufangen, und er ist absolut meisterlich beschrieben - überaus spannend, völlig überzeugend, da präzis im Detail, psychologisch glaubhaft und sprachlich exzellent.

Urs Blank, Mitte Vierzig, ist ein sehr erfolgreicher Wirtschaftsanwalt mit Vermögen, Haus, liebenswürdiger Lebenspartnerin und gutsituierten Freunden. Da lernt er eines Tages die zwanzig Jahre jüngere Lucille kennen, die auf dem Markt Sandelholz-Räucherstäbchen verkauft. Das hübsche Mädchen und ihre alternative Lebensweise ziehen ihn magisch an. Er gibt Haus und Lebenspartnerin auf, vernachlässigt seine Klientel, versucht, mit Lucille zu leben. Die nimmt ihn eines Tages zu einem kruden Trip mit. Es gibt einen Ritus mit psychedelischen Pilzen, die wie Drogen wirken. Das in ihnen enthaltene Psilocybin verändert die Sinneswahrnehmungen, vermittelt ein neues Selbstwertgefühl. Der Betroffene gewinnt die Einsicht, daß es nichts gibt außer ihm selbst, und entsprechend verhält sich sein Unterbewußtsein. Auch nach der Ausnüchterung vermißt Blank alle Hemmschwellen. Aus dem charmanten, ausgeglichenen und amüsanten Weltmann wird ein ruppiger, launenhafter und wortkarger Eigenbrötler. Alle moralischen Bedenken und die ganze bürgerliche Wohlanständigkeit fallen von ihm ab. Die dunklen, bisher beherrschten Triebe erhalten freien Lauf, er folgt nun ungebremst jedem Impuls. In diesem Zustand begeht er Gewalttaten, die ihn aus der Zivilisation ausgrenzen. Entsetzt flieht er vor sich selbst, versteckt sich im Wald, lernt, in der Natur zu überleben. Er wird gesucht, verfolgt - von der Polizei, aber auch von Kollegen und Klienten, die er vermöge seiner Kenntnis ihrer Geschäfte und Betrügereien in der Hand hat. Ein Wettlauf beginnt, am Ende gibt Blank auf.

Der Autor hat seine Story dramatisch geschickt und zielgenau auf das beklemmende Ende hin konzipiert ausgebreitet. Er schreibt in sachlichen kurzen Sätzen, aber jeder Satz ist gefeilt und „sitzt“. Jedes Wort vermittelt wichtige Aufschlüsse und notwendige Informationen - da schwingen auch Stimmungen mit, da werden auch Gefühle enthüllt -, und es ist kein Wort zuviel, aber auch keines zuwenig. Martin Suter wurde 1948 in Zürich geboren, er lebt in Spanien und Guatemala, er ist Kolumnist, Drehbuchautor und Romancier - sein Romandebüt Small World ist ebenfalls bei Diogenes erschienen und wurde ein internationaler Erfolg. Es ist kein Risiko, auch dem neuen Buch solche Resonanz zu prophezeihen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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