Eine Rezension von Henry Jonas

Wo Brahm und Reinhardt Theatergeschichte schrieben

Alexander Weigel: Das Deutsche Theater
Eine Geschichte in Bildern.
Herausgegeben vom Deutschen Theater.
Propyläen Verlag, Berlin 1999, 400 S.

Nachdem der traditionsreiche Schinkelbau auf dem Gendarmenmarkt nicht mehr der darstellenden Kunst, sondern ausschließlich der Musik dient, ist das Deutsche Theater die älteste der noch praktizierenden Bühnen Berlins. Auch hier hat sich Theatergeschichte vollzogen. Das Deutsche Theater war die Bühne von Otto Brahm und Max Reinhardt, und fast alle großen deutschen Schauspieler sind hier aufgetreten. Da läßt sich Exemplarisches abhandeln, da sind unendliche Erinnerungen aufzufrischen. Wahrscheinlich ist deshalb das Wirken keiner anderen Berliner Bühne so oft und so ausführlich in Büchern beschrieben worden wie das des Deutschen Theaters.

Im Henschelverlag erschien 1983 Deutsches Theater Berlin Schumannstraße 13 a von Alfred Dreifuss, und vier Text-Bild-Bände hat das Theater selbst veranlaßt. 70 Jahre Deutsches Theater (1953, 66 Seiten, Herausgeber Herbert Ihering) war noch schmal und bescheiden, Deutsches Theater - Bericht über 10 Jahre (1957, 308 Seiten, Herausgeber Heinar Kipphardt) war schon voluminöser und gehaltvoller, und 100 Jahre Deutsches Theater Berlin (1983, Herausgeber Michael Kuschnia) umfaßte gar 520 Seiten im Großformat und beschäftigte fünf Redakteure und 44 Autoren. Das Deutsche Theater (1999, offenbar von Alexander Weigel allein verfaßt) hat sich nun auf einen mittleren Umfang eingependelt.

Die ersten vier Bücher sind bestimmten Jubiläen gewidmet, der Anlaß des jüngsten Buches bleibt dagegen unbestimmt. Sicher ist es Zeit, die letzten Jahrzehnte detaillierter aufzuarbeiten, zumal sich mit Ende der Intendanz von Thomas Langhoff eine tiefe Zäsur ankündigt. Aber leider wird gerade die Amtszeit dieses Bühnenchefs (seit 1991) nicht mehr recht einbezogen, ein zweiseitiges Gespräch mit Langhoff steht anstelle einer Wertung seiner Intendanz, für die es wohl noch zu früh war. Als die Schlußredaktion stattfand, gab es sicher noch große Pläne für die Weiterführung der Intendanz, denen der Senat kurz danach mit dem Beharren auf dem Auslaufen des Vertrages den Boden entzog. Aber überhaupt werden die letzten vier, fünf Jahrzehnte nicht besonders ausführlich und herausgehoben behandelt, obwohl Weigel, seit 1964 als Dramaturg am Hause, sie ja größtenteils miterlebt und zum Teil mitgestaltet hat. Auch die beigegebenen Texte auf den Randspalten (hier im wesentlichen Stasi-Dokumente) sind nicht besonders aufschlußreich. Immerhin erfährt man Gründe und Hintergründe für den oft raschen Wechsel der Chefs.

Das Buch beginnt mit Friedrich Wilhelm Deichmann, der 1848 im Garten seines Casinos in der Schumannstraße ein Sommertheater für kleine Lustspiele und Lokalpossen eröffnete und auf Grund des Erfolgs dem Architekten Eduard Titz den Auftrag erteilte, an gleicher Stelle ein festes Haus zu errichten. 1850 wurde das Friedrich-Wilhelm-Städtische Theater dann eröffnet. In Deutsches Theater umbenannt, wurde diese Bühne ab 1883 von Adolph L'Arronge einer höheren Bestimmung zugeführt. Daß es fortan unter den führenden deutschen Bühnen genannt wird, war ein Verdienst vor allem von Otto Brahm (Direktor ab 1894) und Max Reinhardt (ab 1905). Es folgten die Theaterleiter Heinz Hilpert (ab 1934), Gustav von Wangenheim (ab 1945), Wolfgang Langhoff (ab 1946), Wolfgang Heinz (ab 1963), Hanns Anselm Perten (ab 1970), Gerhard Wolfram (ab 1972), Rolf Rohmer (ab 1982), Dieter Mann (ab 1984) und Thomas Langhoff (ab 1991).

An dieser Abfolge orientiert, ist die Gliederung des Buches klar und übersichtlich. Die Texte sind sachkundig und souverän in der Darstellung, im allgemeinen auch nobel und ausgewogen in der Wertung. Jedem Theaterleiter hat Weigel einen Essay gewidmet, die Randspalten sind zur Wiedergabe von historischen Briefen, Presseartikeln und Dokumenten genutzt, und jedes Kapitel wird durch eine kommentierte Bildfolge abgeschlossen. Wichtige Texte sind nun allerdings gleich dreimal zu lesen - sie tauchen in den Dokumenten auf, werden in den Essays zitiert und im Bildkommentar oft noch einmal wiederholt. Das wäre nicht schlimm, ginge dabei nicht Raum für weitergehende Differenzierung verloren. (Reinhardts Premieren zum Beispiel verbreiteten tatsächlich einmaligen Glanz, den Theateralltag aber hätte man durchwachsener charakterisieren müssen, wäre dafür Platz gewesen. Nach der Premiere erlosch meist das Interesse des Meisters an der Inszenierung, er zog die Protagonisten rasch heraus, um sich mit ihnen Neuproduktionen zuzuwenden, und Regieassistenten oblag es, die zweite und dritte Garnitur an ihrer Stelle einzuweisen.) Auch geht in der schlaglichtartigen Kommentierung der Bildseiten, in der Zuspitzung oft die Ausgewogenheit der Formulierung verloren. (In bezug auf die DDR-Wirklichkeit des Jahres 1977 wird auf Seite 285 zum Beispiel behauptet: „Die Kohlhaas-Dramatisierung konstatiert, daß in der Gesellschaft ein Zustand herrscht, in dem das Eintreten für das Recht als Verbrechen gilt.“)

Überblickt man die Geschichte des Deutschen Theaters, scheint es, als wären Bühne und Zensur untrennbar verbunden (selbst dort, wo es sich um eine private handelt, die keine staatlichen Zuschüsse erhält). Schon Deichmanns theatralische Harmlosigkeiten wurden argwöhnisch beobachtet, im Polizeirapport wurde regelmäßig festgehalten, wenn man sich auf Kosten der Regierung und bestehender Staatseinrichtungen amüsierte oder wenn kleinste politische Anspielungen zu demonstrativem Beifall führten. Infolgedessen gab es Verbot von Stücken, Absetzung von Inszenierungen, Androhungen, die Bühne zu schließen. Darsteller wurden für Extempores auf politische Verhältnisse mit Geldstrafen belegt (und Verehrer und Gesinnungsgenossen streckten ihnen die entsprechenden Summen schon prophylaktisch vor). Später handhabt nicht nur der Polizeipräsident die Zensur, auch das Preußische Abgeordnetenhaus, Reichstag und Regierung mischen sich ein. Schnitzler, Sudermann, Wedekind, Sternheim und Hasenclever werden umkämpfte Autoren. (Von der „Hose“ wird vorsichtshalber erst mal nur eine Probeaufführung genehmigt, später muß der Titel in „Der Riese“ abgeändert werden; die Uraufführung des „Grünen Kakadu“ wird verboten, eine Aufführung erst genehmigt, als sich das Stück am Wiener Burgtheater durchgesetzt hatte; Sudermanns „Johannes“, von der Zensur untersagt, wurde erst durch Machtspruch des Kaisers freigegeben, nachdem der Autor seine Beziehungen spielen ließ.) In der Nazi-Zeit waren alle Verträge und alle Spielpläne genehmigungspflichtig, und der Reichsminister für Propaganda hatte das Recht, Stücke sowohl zu untersagen als auch zu verlangen. Natürlich hat sich auch der DDR-Staat in vielfältigster Weise bei seinem Staatstheater eingemischt; daß „Die Sorgen und die Macht“ von Hacks und Müllers „Der Bau“ untersagt und die „Faust“-Inszenierung von 1968 sogar im Staatsrat diskutiert wurden, sind nur Beispiele dafür.

Aber eine wirksame, eingreifende Gegenwartsdramatik, die behandelt, was die Zuschauer tatsächlich bewegt, ist wohl doch der wichtigste Faktor eines lebendigen Theaters, auch die Klassiker erhalten erst in diesem Kontext wieder Aktualität. Das mußte der Theaterkritiker Otto Brahm schon 1885 dem Theater des Direktors L'Arronge vorhalten: „Es hat seine Stücke gut genug aufgeführt, aber es hat nicht genug gute Stücke aufgeführt.“ (Goethe, Schiller, Lessing und Kleist wurden damals vorwiegend mit Blumenthal, Benedix, Birch-Pfeiffer und Lindau konfrontiert.) Als Otto Brahm selbst Theaterleiter war, sicherte er sich mit 14 Stücken von Hauptmann und je zehn Stücken von Ibsen und Schnitzler den Kern seines Repertoires - nur daß eben die Klassik dabei ins Hintertreffen geriet. Die hochkarätige Gegenwartsdramatik zu stimulieren und ins Repertoire zu holen war wohl auch die Hauptsorge von Wolfgang Langhoff und Wolfgang Heinz. Die aufmerksam beobachtende Staatsmacht war nur der eine Teil des Problems, manch sorgsam entwickeltem Projekt mangelte es dann auch noch an Resonanz. (Matusches „Dorfstraße“, „Die Holländerbraut“ von Strittmatter, „Terra incognita“ von Kuba, „Der Aufstieg des Alois Piontek“ von Kipphardt und „Columbus oder Die Entdeckung des neuen Zeitalters“ von Hacks erlebten nur zwischen 10 und 29 Aufführungen.) Was trifft den Nerv des Zuschauers tatsächlich? „Die Aula“ von Kant (mit 297 Aufführungen), „Unterwegs“ von Rosow/Müller (161), „Der Lorbaß“ von Salomon (128) und „Adam und Eva“ von Hacks (103) wurden das, was man „Selbstläufer“ nennt - Stücke, die von sich aus Publikum ins Theater zogen.

Schön, daß in dem Buch durchgehend die Eintrittspreise, umgerechnet in die heutige Kaufkraft und konfrontiert mit dem nominellen Jahresverdienst eines Arbeitnehmers in Industrie, Handel und Verkehr, mitgeteilt werden. Aber der Publikumsaspekt, die Auslastung der Häuser, bleiben leider ganz außen vor. Schade. Die Erhellung der Geschichte des DT unter dem Aspekt der Zuschauersituation (gibt es noch Kassenrapporte? Rechenschaftsberichte für die Aktionäre?) steht noch aus. Wie die Gebrüder Reinhardt in dieser Hinsicht verfuhren, wie Hilpert gegen den Zeitgeist lavierte - das wüßte man schon gern. Und wer weiß schon heute noch, wie Mitte 1963 Inszenierungen wie „Die Holländerbraut“, „Der Mann mit dem Gewehr“ (Regisseur war übrigens Horst Schönemann, nicht Hannes Fischer, wie auf Seite 251 vermerkt) und „Rote Rosen für mich“ das Theater leergefegt hatten und wie im Jahr darauf das Publikum mit „Unterwegs“, „Geliebter Lügner“, „Die schöne Helena“ und „Der Drache“ wieder zurückerobert wurde und die Häuser täglich ausverkauft waren?

Natürlich kann ein Buch nicht alle Aspekte einer so langen Zeitspanne verfolgen, aber der Leser ist hier vielleicht doch kritischer, weil der Herausgeber auf so umfangreichen Vorleistungen aufbauen konnte. Als großes Verdienst muß gelten, daß nun auf 65 Seiten erstmals ein Verzeichnis aller Inszenierungen und Besetzungen von 1883 bis 1998 angefügt wurde. Und unschätzbar ist natürlich das reiche Fotomaterial, wenngleich die Auswahl nicht immer einleuchtet. Tolstois „Auferstehung“ (1957, Regie Paryla) und Gorkis „Sommergäste“ (1959, Regie Heinz) waren auch im Rahmen einer im ganzen überaus qualitätsvollen Theaterarbeit inszenatorische und darstellerische Spitzenleistungen, an die zumindest mittels der Fotografie erinnert werden sollte. Auf dieser Höhe bewegten sich die Inszenierungen der Shaw-Komödien „Pygmalion“ (1952, Regie Noelte) und „Die Millionärin“ (1965, Regie Fischer) keineswegs, aber mit 472 bzw. 394 Aufführungen hatten sie nach dem „Drachen“ (580) den größten Publikumserfolg. Auch das wäre wohl ein Foto wert gewesen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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