Eine Rezension von Kathrin Chod
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Spree-Athen in den Sandwüsten Arabiens

Thorsten Sadowsky:
Reisen durch den Mikrokosmos
Berlin und Wien in der bürgerlichen Reiseliteratur um 1800.
Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1998, 236 S.

Berlin und Wien waren im 18. Jahrhundert nicht nur die beiden größten deutschen Städte, sondern gleichzeitig die Hauptstädte der beiden Rivalen um die Vorherrschaft in Deutschland. Berlin und Wien verkörperten darüber hinaus den Gegensatz zwischen dem „norddeutschen Protestantismus und dem süddeutschen Katholizismus, zwischen norddeutscher Rationalität und süddeutscher Sinnlichkeit“. Ein Gegensatz, den auch die Autoren der von Thorsten Sadowsky untersuchten Reiseliteratur pflegten: „Spree-Athen“ und „Land der Phäaken“ waren die Begriffe, mit denen Moderne und Geist in Berlin bzw. die sinnlichen Genüsse und das Festhalten in der Vergangenheit in Wien charakterisiert wurden.

Als Ziel seiner hier vorliegenden Dissertation gibt Sadowsky an, eine „Archäologie der gesellschaftlichen Topik über Berlin und Wien vor dem Einsetzen der eigentlichen Moderne“ vorlegen zu wollen. Er stützt sich dabei auf die zahlreichen Reiseberichte der Spätaufklärung, da der fremde Blick typische Städtebilder prägte. Der Autor beginnt mit einem Überblick zum Thema Stadt und Reisen, geht auf die unterschiedliche Entwicklung der Städte im Europa des 18. Jahrhunderts ein und skizziert auch die Diskussion innerhalb des Bürgertums über die werdende Großstadt. Der Autor wertete, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, 53 Reisebeschreibungen von insgesamt 46 Verfassern aus, angefangen von der enzyklopädischen zwölfbändigen Beschreibung einer Reise durch Deutschland von Friedrich Nicolai bis zu privaten Reisetagebüchern von Kaufleuten.

Unabhängig davon, wie die Urteile der Reisenden über die Städte letztlich ausfielen, wurden schon bei der Anreise erhebliche Unterschiede vermerkt. So kam man nach Berlin nur über „verdrießliche“, „böse“ Wege. Die gab es zwar in Wien auch, doch hierher konnte man immerhin per Schiff über die Donau gelangen, durch eine malerische Gegend statt durch eine „sandige und lehmige Heide- und Moränenlandschaft“: „Wien liegt in einem fruchtbaren Garten, von hohen Bergen umschlossen ... Berlin liegt dagegen in den Sandwüsten Arabiens“. Überraschend sicher, daß trotz der eher bescheidenen Größe der damaligen Städte schon die Merkmale der modernen Großstadt wahrgenommen wurden, als da sind Anonymität, Gleichgültigkeit, Unübersichtlichkeit und Massen.

Als einen besonderen Aspekt untersucht Sadowsky, ob die Reiseberichte neben der Aufzählung der Sehenswürdigkeiten auch Blicke hinter die Fassade gewähren. Er stellt fest, daß der bürgerliche Reisende vor allem Kontakte in seiner sozialen Schicht fand. Einerseits fand er kaum Zugang zur Welt des Hochadels, andererseits wurde auch das Leben der städtischen Unterschichten kaum zur Kenntnis genommen. Schilderungen wie die von Georg Friedrich Rebmann von 1793 blieben eine Ausnahme: „An jenem Ende der Stadt betäubte dich das Rasseln der Karossen, hier hörst du nur das Seufzen einer Mutter, die für ihre Kleinen kein Brot hat ...“ Darüber hinaus vermerkt Sadowsky resümierend, daß die Gesellschaft der Aufklärer zwar Modernisierungsanspruch und Fortschrittsoptimismus einte, daß sich die Geister aber immer dann schieden, wenn lokale und konfessionelle Identitäten betroffen waren. Der Lokalpatriotismus der Aufklärungselite ließ auch den zugleich vertretenen Kosmopolitismus fragwürdig erscheinen. Kein Einzelbeispiel wäre demnach Friedrich Gedike, der in seinen Briefen von einem Fremden in der „Berliner Monatsschrift“ schrieb: „Denken Sie sich nach meiner Schilderung jetzt bei dem gemeinen Brandenburger nur nicht das komplimentenreiche Wesen, die ekelhafte Schwatzhaftigkeit, das unbedeutende Lächeln, die süßliche Faselei und die weibische Bedachtlosigkeit, die uns manchmal bei einigen gemeinen Juden, Franzosen, Sachsen, Schlesiern und Wienern beleidigte. Des Brandenburgers freier Sinn, guter Mut und frohes Herz steht gerade mitten zwischen dem stummen tölpischen und groben niedern Klasse im nördlichen Deutschland und dem jetztgenannten Extrem.“

Das Buch gibt insgesamt einen informativen Überblick über die Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts, und wer sich näher für Stadtgeschichte interessiert, der wird mit Sicherheit dazu angeregt, das eine oder andere Original zu lesen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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