Eine Rezension von Christel Berger

DDR-Literatur und ihr Hinterland

Birgit Dahlke/Martina Langermann/Thomas Taterka (Hrsg.):
LiteraturGesellschaft DDR
Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n).
J. B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 2000, 423 S.

Der Klappentext verspricht Spannendes: „Was konnte die Rocksängerin und den Betriebsdirektor, die junge Krankenschwester und den alten Brigadier miteinander verbinden? Ein Buch, eine Figur, die Faszination des Lesens, die hohe Wahrscheinlichkeit, dasselbe gelesen zu haben? Lebten sie in einem Diskursgefängnis?“ Um diesem Phänomen und anderen der DDR-Literatur auf die Spur zu kommen, bedienen sich die an diesem Projekt beteiligten Literaturwissenschaftler eines zentralen Ordnungsprinzips: „dem Wirken von Kanon(es) und Kanonisierung als Handlungsbedingung für Autoren wie Lektoren, Literaturkritiker wie Zensoren“. Was sie herausgefunden haben, ist aufschlußreich und spannend, wenn auch einige ihrer Blütenträume nicht in Erfüllung gegangen sind. So gelingen der Bezug zum Leser oder Rückschlüsse auf die Wirkung der jeweiligen Bücher kaum, dagegen wissen wir nun dank detaillierter Forschung mehr über das komplizierte Miteinander, Gegeneinander von politischen Programmen, Anweisungen, Wertvorstellungen, kulturpolitischen Strategien und dem Niederschlag in der Literatur. Im Unterschied zu westlichen Gesellschaften, so der Markt und das Feuilleton trendbestimmend sind und es keine zentrale Leitstelle gibt, beherrschten in der DDR andere Instanzen die Buchproduktion: Ein Netz von Gutachten beispielsweise war eine Schranke, und die verschiedenen Zensoren wiederum hatten mehr oder weniger die „Linie“ von Partei und Regierung verinnerlicht. Papierknappheit war ein anderes Mittel, um über Auflagenhöhe von „gefälligen“ oder „mißliebigen“ Büchern zu bestimmen. Und die Kritiken in den Zeitungen taten ein übriges. Wenn man nun meint, damit seien die Fronten - hier Autoren, da Zensoren, Partei und Kritiker - geklärt, irrt auch. Es war komplizierter, verwickelter, und das hier vorzustellende Buch trägt dazu bei, Licht in dieses Gewirr zu bringen. Die Autoren haben die nun zugänglichen Fakten gut studiert.

Wenn auch die Begriffe und vor allem die Definitionen samt Zusatzerläuterungen neu und reichlich wissenschaftssprachlich kompliziert sind, das Ganze ist so neu nun wiederum nicht. Was Georg Lukacs, der ja nach 1945 einen großen Einfluß hatte, mit seiner Sicht auf Literatur - selbst wenn das schematische Züge trug und es um ganze Epochen ging - anregte, war ja, Literatur nicht losgelöst von gesellschaftlichen Entwicklungen zu sehen. Und verstärkt seit den 70er Jahren haben Literaturwissenschaftler in der DDR neue, differenzierte Methoden versucht, die Literatur in ihrer Verquickung und Verschränkung mit größeren gesellschaftlichen außerliterarischen Bedingungen zu betrachten. (DDR)-Literatur im Spannungsfeld von Wertvorstellungen und Wirkungsabsichten als ein funktionierendes gesellschaftliches System zu untersuchen war ein Schwerpunkt der Forschung am einstmaligen Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften, und auch die Germanisten der Universität Halle leisteten hier Wichtiges. Nur wurde damals von den DDR-Wissenschaftlern ein DDR-Bild zugrunde gelegt, das oft mehr ihren Wünschen oder offiziellen Verlautbarungen als der Realität entsprach. Darüber gründlich nachzudenken, sich selbstkritisch zu befragen war Zeit genug, zumal die meisten Wissenschaftler Amt und Anstellung verloren. Schön, daß es mit diesem Buch einem Team von erfahrenen und jüngeren Wissenschaftlern gelang, ihr 1992 eingereichtes Projekt durchzusetzen und zu Ende zu führen.

Wie immer - da unterscheiden sich die früheren „Autorenkollektive“ nicht von den heutigen „Teams“ - gibt es starke und schwache Beiträge, verrät bei aller Bindung an das gemeinsame Zentralsystem und Vokabular der jeweilige Autor seinen Ausgangspunkt und das Potential seiner Erfahrungen und Kenntnisse. Kein Wunder also, wenn Dieter Schlenstedts Beitrag „Doktrin und Dichtung im Widerstreit. Expressionismus im Literaturkanon der DDR“ herausragt und dominiert. Ein Mann seiner Erfahrung hat die Kämpfe zwischen Dichtung und Doktrin sowohl gründlichst studiert wie teilweise erlitten. Er weiß um die Innereien solcher Auseinandersetzungen, die prinzipiell, gesellschaftsstrategisch begründet, aber auch höchst zufällig, personal-bedingt sein konnten. Und wäre nicht seine erste Überschrift der Titel und ein Ansatzpunkt für die DDR-Literaturgeschichte insgesamt? Nicht nur in dem simplen Sinne, daß jedes erschienene Buch von Rang über die Instanzen der Verlagsgutachten, der Stasi-Ermittlungen und der Kritik mit „Doktrinen“ konfrontiert wurde, daß es dabei ständig Reibungen gab? Auch in dem Sinne, daß die Autoren auch Literatur- und Gesellschafts-Vorstellungen hatten, die sie in ihren Büchern anwandten. Daß sich die Vorstellungen von Autoren, Kritikern, Zensoren und Lesern innerhalb von vierzig Jahren wandelten, veränderten! Und daß es keine uniforme Meinung, selbst nicht innerhalb der alles beherrschenden Einheitspartei gegeben hat!

Es würde ein ungeheuer dickes Buch, diese DDR-Literaturgeschichte, und ich bin mir sicher, daß es nie alles, was da im Widerstreit lag, erfassen könnte, so vielschichtig, aber auch unterschiedlich waren die Ebenen, auf denen gestritten wurde: Da maßten sich Funktionäre der Bezirke Urteile an, die vom Ministerium nicht geteilt wurden. Da mischten sich angebliche Fachleute ein, die zwar nichts von Literatur, aber von Landwirtschaft verstanden und meinten, weil im Buch eine Wiese vorkam, dafür kompetent zu sein. Da schrieben Leser unaufgefordert oder auch beauftragt von Funktionären, warum ihren Vorstellungen von Literatur das Dargestellte nicht genüge, und diese Vorstellungen hatten sie eingebleut bekommen von Normwächtern, die es entweder auch nicht besser wußten oder aber „Schlimmes“ von ihrer heilen Welt abwenden wollten. Oder sie wollten auch nur ihren Vorgesetzten gefallen. Ein ungeheuer weites Feld! Und dennoch ein Phänomen, denn alle meinten, Wichtiges zu tun: die Autoren, die Zensoren, die Leser. Literatur war wichtig, weil sie auf das Leben, auf die Ziele des Lebens, auf den Sinn des Lebens verwies. Darüber machten sich die Krankenschwester und der Brigadier, der Arzt und der Betriebsdirektor ihre Gedanken und suchten die Anregungen von Schriftstellern. Und wo es um „Sinn“ geht, ist Beliebigkeit verpönt. Das beweist unter anderem die Kirche seit Jahrhunderten. Und so gerät derartige „Sinn-Literatur“, die zumal noch von den Mächtigen des Staats ernst genommen und benutzt werden will, leicht zu einem Ersatz von Religion mit Geboten und Tabus. Was zum Teufel wäre denn gewesen, wenn es erlaubt worden wäre, die Wahrheit darüber zu schreiben, wie die sowjetischen Befreier in die deutschen Städte und Dörfer einzogen? Man berief sich auf Friedrich Engels, der sich nicht wehren konnte, daß nur das „Typische“ realistisch sei, und in diesem Sinne war die Darstellung von Vergewaltigungen bis zu Zeiten von Strittmatters „Wundertäter“ III 1980 eben unmöglich. (Darüber schreibt Birgit Dahlke ausführlich.) Das wiederum muß man nur bedingt als „religiös“ - im Sinne eines Heiligenkults - werten, dahinter steckten natürlich handfeste politische Erwägungen und Kräfte. Wie sehr die Sowjets in den verschiedesten Fällen der Kanonkämpfe mitmischten, ist in den verschiedenen Beiträgen plausibel nachgewiesen.

Aber zurück zu Dieter Schlenstedts Beitrag: Nicht das gesamte weite Feld des Widerstreits zwischen Doktrin und Dichtung ist sein Gegenstand, er hat sich weise beschränkt auf das „aggredierte Symbol“ (dies ist ein wichtiger Begriff innerhalb der Beschäftigung mit Kanones) des Expressionismus und konnte so einen Bogen von 1934 bis in die achtziger Jahre ziehen. Als Georg Lukacs 1934 im sowjetischen Exil sein abwertendes Urteil über den Expressionismus sprach und eine ganze Debatte auslöste, ging es ihm um eine Doktrin für Literatur, die der antifaschistischen Volksfront entgegenkam und die für die breite Masse des Volkes, die für den Aufbau des Sozialismus begeistert werden sollte, eingängig, verständlich war. Außerdem war damals dieses Erbe mit den Anfängen beispielsweise von Johannes R. Becher und Friedrich Wolf verbunden. Die schrieben mittlerweile ganz anders und teilten wohl auch mit Lukacs die Überzeugung, daß man für die gemeinsame Sache weniger „subjektivistisch“ werben müsse. Ihre „Jugendsünden“ waren ihnen peinlich. Nach 1945 wurde dann in der SBZ und der DDR von ebendiesen an der damaligen Diskussion Beteiligten die Wertung eingebracht und übernommen, und „expressionistisch“ war oft identisch mit „formalistisch“, „modernistisch“, gar „dekadent“ - sämtlich Feindsymbole in der Kunstpolitik der frühen DDR. Bis dann Anfang der 60er Jahre mit einem neuen Selbstbewußtsein nach dem Mauerbau aus gänzlich verschiedenen Richtungen - in diesem Falle vom sowjetischen Literaturwissenschaftler Ilja Fradkin und von Stephan Hermlin - das normierte Urteil in Frage gestellt wurde. Es ist spannend zu lesen, wie sich die Verwalter der Doktrin, vor allem Alfred Kurella und Wilhelm Girnus, bemühten, diesen „Frevel“ zu ahnden. Geht man nach den öffentlichen Deklarationen, bekamen zwar die Wächter des Kanons recht, und Hermlin wurde bestraft, aber letztlich war es doch der Anfang vom Ende einer solchen Auffassung. Dieses Ende sieht Schlenstedt in der Entstehung und Geschichte von Franz Fühmanns Trakl-Essay „Vor Feuerschlünden“ 1982. Darin freilich geht es nicht mehr allein um eine literaturgeschichtliche Akzeptanz der expressionistischen Literatur, nein, Fühmann rüttelte an mehr: Er zweifelte an der Berechtigung jeglicher Gebote für Kunst. Allein die subjektive Erfahrung im Umgang mit Kunst sei ausschlaggebend. Individuelle Betroffenheit ist Fühmanns Kritierium - für ihn ein strenges Maß, denn jedes Wortgeklingel, jede hohle Phrase prallte an ihm ab.

Wie man sieht, ein anregendes Unternehmen, über die „Kämpfe“ der LiteraturGesellschaft DDR nachzudenken. Besonders erwähnenswert ein Beitrag von Kirsten Thietz über die Arbeit des Rostocker Hinstorff Verlags in den 60er und 70er Jahren. Gewünscht hätte ich mir, daß in ähnlicher Weise der Schriftstellerverband untersucht worden wäre, daß Autoren wie Christa Wolf oder Hermann Kant mit ihren Werken mehr im Blickpunkt gestanden hätten. Aber das ist vielleicht ein nächstes Buch.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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