Eine Rezension von Bernd Heimberger

Zahme Zunge

Lutz Rathenow: Der Himmel ist heut blau
Der KinderBuchVerlag, Berlin 2000, 61 S.

ders.: Sterben will gelernt sein
Lyrische Prosa - Prosaische Lyrik.
Landpresse Verlag, Weilerswist 2000, 54 S.

In der DDR war der Autor Lutz Rathenow ein Autor, der offiziell keine Autor war. Sein Schreiben gefährdete zwar nicht die DDR, brachte jedoch Verlage in der DDR in arge Verlegenheit. Auch den Kinderbuch Verlag, dem sich der Autor als Autor empfahl und der sich den diskreditierten Dissidenten vom Hause hielt. Der KinderBuchVerlag Berlin, mit dem Kinderbuch Verlag der DDR durchaus verwandt, hat jetzt, Zweitausend, einen Rathenow veröffentlicht. Gemäß bewährter Buch-Kultur-Tradition illustriert vom „Haus“-Grafiker Egbert Herfurth. Da weiß man, was man hat, sofern man bewandert ist in der deutschen Bücherwelt! Der Himmel ist heut blau ist ein Kinderbuch, das kein Kind des Lebens ausschließt. „Lustig listige Gedichte und Geschichten“, die der Verfasser den Junglesern zumutet, lüften auch den Geist alltagsvernebelter gereifter Jahrgänge. Die dürfen sich getrost fragen, ob der vergnügliche Vierzeiler „Immer wieder“ nicht ein faules Ei ist, das besser nicht mit dem Löffel der Logik aufgeschlagen wird. Der Vers geht so: „Der Tag schlüpft aus dem Ei / und denkt sich nichts dabei. / Und wir - wo bleibt Applaus? - wir brüten ihn dann weiter aus.“ Applaus für alle, die ausbrüten vermögen, was schon geschlüpft ist! Lutz Rathenow ist in seinem Element, wenn er über die Logik der Unlogik im Leben philosophiert, die Kinder so leicht und Erwachsene nur schwer kapieren. Des Schriftstellers „Argumente für eine (außer)ordentliche Ordnung“ hingegen werden eher den Alten zu Herzen gehen, als den Jungen aufs Gemüt schlagen. So soll's sein, wenn der Autor für Kinder den Kuß und für Erwachsene die Backpfeife hat.

Wo ein Rathenow ist, ist der nächste nicht fern. Das ist so für den Schriftsteller, seit die DDR-Barrikade weg ist. Im „Rathenow“ Verlag Landpresse ist ein weiteres bibliophiles Buch publiziert und abermals mit surreal-dramatischen Graphiken von Frank von der Leeuw. Sterben will gelernt sein heißt die Sammlung „Lyrischer Prosa - Prosaischer Lyrik“. Das Wort Sterben hat der Schriftsteller nicht leichtfertig gewählt. Er greift vor. Sagt: „Ein halbes Jahrhundert leb ich nun“, und ignoriert die beiden fehlenden Jahre. Er kann generös sein, denn er hat die Geschichte von Jahrhunderten in sich und die Biographien von Hunderten. Das macht - manchmal - älter, als man ist. Das stellt das Alter, das man tatsächlich hat, ständig in Frage. Man ist tausendjährig, lebt tausendjährig, ist einzigartig und hundertfach, ist grenzenlos und gefangen. Ein halbes Jahrhundert zu haben bedeutet, noch immer über das Beginnen nachzusinnen und zugleich das Ende zu ahnen. Bedeutet, die Gewißheit zu haben, daß alle Märchen Anfang und Schluß haben. Sämtliche Lebensmärchen seit Menschengedenken. In Rathenows Geschichten und Gedichten sind Märchenepisoden zusammengefaßt, die das Lebensmärchen enttarnen. Nimmt Rathenow die demonstrative Maske des Optimisten ab und gibt den Melancholiker zu erkennen? Wer möchte das glauben? Hat Lutz Rathenow begriffen - und mit ihm das Volk -, daß er fortwährend nichts anderes macht als „bessere Fehler“, wie er in der poetisch-prosaischen Erinnerung „Wir sind das Volk“ schreibt? Soviel vordergründig Wesentliches ist nicht in vielen Texten, die den typisch Rathenow-Mix-Band füllen. Neben den starken satirischen Texten dominieren die poetisch, polemisch, publizistisch betonten Texte. Wie immer ist Rathenow literarisch am stabilsten, wenn er satirischer Gesellschaftskritiker ist. Die Satire ist schlank geworden, seit die triviale Gesellschaftssatire in den Medien aufgepäppelt wurde. Früher übertrumpfte der Schriftsteller mit seiner Saite die Wirklichkeit, heute übertrumpft die satirische Wirklichkeit den Schriftsteller. Seine spitze Zunge ist runder geworden. Die Literatur verliert an Leben. Da nützt es nichts, wenn Lutz Rathenow vorgibt, das Sterben schon mal zu üben. Er ist noch nicht soweit. Er hängt am Leben. Und hinkt ihm hinterher.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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