Eine Rezension von Helmut Hirsch
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Zeitreisen und Entdeckungen

Richard Miklin: Wien
Literarische Spaziergänge durch Vergangenheit und Gegenwart.
Klett-Cotta/J. G. Cotta'sche Verlagsbuchhandlung Nachfolger,
Stuttgart 2000, 225 S.

Einen literarischen Reiseführer liest man am besten an Ort und Stelle. Wenigstens schon während der Fahrt mit dem ICE nach Wien. Plötzlich steht man vor dem Stephansdom, der den Blick in die Höhe zieht. Adalbert Stifter nannte den Dom vor einhundertsechzig Jahren eine „schlanke, zarte, luftige Pappel“ - aus der Entfernung. Und wenn er ihr näher kam, war es „ein dunkler, schlanker, riesiger Stift in der glänzenden Luft“. Während der Rezensent nun das Bauwerk bestaunt, blickt er in dieses Buch, das auch mit der Beschreibung des Doms beginnt. Wien von oben hebt er sich für später auf, indessen er, wiederum von Stifter, Blicke über die Stadt beschrieben bekommt. Vieles hat sich indessen verändert. Richard Miklin macht Unterschiede und Veränderungen deutlich. Moderne Bauten sind hinzugekommen, während Stifter einst die Stadt als eine Scheibe beschrieb, aus der die Kirchtürme ragten. Daß vor dem Dom einmal ein Friedhof war, erkennt man nur an den roten Steinplatten im Pflaster des Stephansplatzes. Geschichte und Literatur. Die Zeugnisse des Vergangenen sind noch sichtbar, Literatur in Wien und über Wien, das ist nur durch Lektüre nachvollziehbar. Richard Miklin nimmt den Leser und den Spaziergänger an die Hand. Ohne ihn wär's nur ein Augenschmaus. Mit ihm brodelt unmittelbares und phantastisches Leben, treten Bilder der Erfindung, Metaphern der Poesie hervor. Gerhard Roth sieht den Dom als eine „versteinerte Arche Noah“, zugleich aber auch als einen „vom Glauben versetzten Berg“. Wien und die österreichische Literatur. Der Wanderer durch die Stadt erfährt, wo Nestroy geboren wurde, aber er sieht nur eine matte Bronzetafel in der Bräunergasse Nr. 3; das Haus modern und unzugänglich. Gegenüber wohnte Friedrich Hebbel. Und wo einmal Grillparzer wohnte, Spiegelgasse 5, gibt es jetzt ein Grillparzer-Restaurant in einem Hotel. Verwischte Spuren. Doch Richard Miklin hilft weiter, wo der Wanderer durch die Stadt nur leuchtende Anti- quariate und eilende Touristenströme sieht. Im Haus Stallburggasse Nr. 2, eingekeilt zwischen Antiquitäten- und Kunsthandel, ein Café, drinnen Zeitungsleser, draußen wird ein kleiner Imbiß genommen. Nirgends am Haus ein Hinweis auf irgend jemand. Doch hier ist ein wichtiger Ort. Alfred Polgar schrieb: „Stallburggasse 2 war, sozusagen, ein interessantes Haus. Nicht nur, weil ich dort wohnte. Es wohnten dort unter anderen auch die Dichter Hugo von Hofmannsthal, der Dramatiker Sil-Vara (sein Stück „Die Frau von 40 Jahren“ erwarb europäischen Ruhm), die Operndiva Maria Jeritza; und, im zweiten Stock, der Doktor Dollfuß.“ Den Hitler im Sommer 1934 ermorden ließ. Doch in diesem unscheinbaren Haus wohnte auch Paul Wittgenstein, der hochmusikalische Neffe des Philosophen Ludwig Wittgenstein. Der wandernde Rezensent betritt das Café Bräunerhof, sieht die vielen Spiegel an den Wänden und erinnert sich an ein Foto, das einen Dichter vor diesen Spiegeln sitzend und Zeitung lesend zeigt. Ich schlage Seite 51 dieses Buches auf und lese: „Thomas Bernhard war Stammgast in diesem Kaffeehaus, dem er in seiner Erzählung ,Wittgensteins Neffe‘ (1982) eine typische Bernhardsche Liebeserklärung gemacht hat. Obwohl er an allem etwas auszusetzen hat, von der Luft im Lokal über die Beleuchtung bis hin zu den Sitzbänken, ist er einer der treuesten Gäste des Cafés.“ Noch ein Stück lasse ich mich von Richard Miklin durch die Gassen führen. Die Dorotheergasse war im 18. Jahrhundert „eine der schönsten Palaststraßen Wiens“, im Palais Eskeles ist seit 1993 das Jüdische Museum untergebracht. Juden und Nichtjuden in Wien, ein Kapitel voller Blut und Wunden. Ein paar Schritte weiter das Café Hawelka. Einst das Stammlokal der „Wiener Gruppe“. Eng geht es hier zu, heute zieht es Touristen herein, gelegentlich kommt auch ein Autor vorbei. Aber es ist alles leicht vorstellbar, zwischen Bildern, Zeitungen, Pfeilern spielten hier Konrad Beyer, Gerhard Rühm oder Oswald Wiener mit Worten und Gedanken. Lang ist's her, es war schon in den fünfziger Jahren. Und gegenüber, wieder ein großer Schritt zurück in die Geschichte, da steht das Grabenhotel, „in dem Peter Altenberg, das Enfant terrible unter den Wiener Literaten der Jahrhundertwende, von 1913 bis zu seinem Tod 1919 gewohnt hat“. Richard Miklin ist immer Kenner, und fast immer schickt er seinen Ortsbeschreibungen einen Text hinterher. Doch der Wanderer blickt nicht stur ins Buch, auch will er nicht immer den Routen des Autors Folge leisten, irrt ab vom Weg, steht plötzlich vor dem Hrdlicka-Denkmal gegenüber der Albertina, die gerade umgebaut wird. Um allen empfohlenen Gängen durch die Stadt zu folgen, brauchte man eher elf Wochen als elf Tage. Miklins Buch gibt Hunderte Anregungen, dann aber überläßt sich der Wanderer dem Zufall. Ja, unbedingt jetzt ins Kunsthistorische Museum, um der Junihitze über Wien zu entgehen. Der Gang zu den alten Meistern. Tizian, Rembrandt, Tintoretto. Und schon wieder ist Thomas Bernhard im Spiele. Sein Roman Alte Meister spielt hier vor dem Bildnis eines weißbärtigen Mannes, gemalt um 1750 von Tintoretto. Man kann den spottreichen Spaß auch auf der Bühne in den Berliner Kammerspielen sehen. Doch hier hängt das Original, und es denkt sich der Betrachter den bissig-sarkastischen Text Bernhards hinzu.

Nur wenige Schritte vom Museum entfernt der Heldenplatz, wiederum ein historischer Ort und zugleich Titel eines Stückes von Thomas Bernhard. Und weil man das alles nicht sieht, gibt es eine Bild- und Toninstallation. Es sprechen der Skifahrer Schranz, dann der Hitler, auch der Papst Johannes Paul II. Sie alle waren einmal an diesem Ort. Alles Geschichte, und immer war Jubel. Auf einem großen Foto steigen Rotarmisten aus einem Trichter vor der großen Bronzefigur der Kaiserin Maria Theresia. Hier ist alles Geschichte und Gegenwart zugleich. Man kann daran vorbeieilen, zu Fuß oder im teuren Fiaker. Wer will, kann hier lange verweilen, nachsinnen. Allem Geschehenen und immer noch Unfaßbaren.

Für eine gute Stunde vergißt der Wanderer auch einmal die Wiener Störenfriede und „Weltverstörer“ Thomas Bernhard und Karl Kraus. In der Österreichischen Nationalbibliothek befindet sich der Prunksaal, die Büchersammlung von Prinz Eugen. Jeder Zentimeter ist hier Pracht und Schönheit. Ausgewählte Folianten, Atlanten und Typoskripte werden gerade in einer Sonderausstellung gezeigt.

In Österreich, „dem exemplarischen Abendland des Untergangs“, wie Alfred Polgar einmal schrieb, herrscht das „tiefste Stimmungsdunkel, das erreicht wird“, und, auf den Dichter Ferdinand Raimund bezogen, es „ist das eines melancholischen Optimismus“. In Wien betreibt die Literatur des frühen 20. Jahrhunderts einen artifiziellen Umgang mit dem Ende der Welt. Das Utopische wird katastrophal. Karl Kraus schreibt für die „Fackel“ 1908: „Am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet hat, daß keiner mehr übrig bleibt, sie zu nützen.“ Ahnungen, Warnungen, Signale. Wege, Orte, Namen, Bücher, Historie.

In Grinzing kann, wer will, beim Heurigen sitzen und sich was vorgeigen lassen. Ich gehe den Hügel hinaus zum Friedhof, finde nach einigem Suchen die Stelle, an der Thomas Bernhard seine Ruhestätte gefunden hat. Kein Name erinnert an den Mann, der mit dem Staate Österreich zeitlebens gehadert hatte. Friedhofsbesuche „wirken belehrend und beruhigend“, wie Professor Schuster in Bernhards Stück „Heldenplatz“ meint. Hier rauscht keine Stadt mehr, man blickt bereits über Wien. Das Grab des Dichters ist „von einem alten schmiedeeisernen Kreuz geschmückt“ (Miklin).

Elf Streifzüge durch Wien empfiehlt Richard Miklin. Es ist wechselweise spannend: ein Blick ins Buch, zwei Blicke in die Wiener Welt; wie sie war, wie sie ist. Anregend und anstrengend schön zugleich. Der Rezensent ist all diesen Touren gefolgt, obwohl er keine Seite für Seite, Gasse für Gasse oder Haus für Haus genau abgelaufen ist. Denn alles ist begehbar, mischbar, Zickzackwege auf Geraden. Wien ist eine Stadt mit vielen äußeren und inneren, sichtbaren und unsichtbaren Kreuzungen. Und das sind Entdeckungen und Überraschungen in großer Zahl. Historische, architektonische, immer wieder literarische. Auch die Musik spielt dazu. Hier hat Mozart „Die Hochzeit des Figaro“ geschrieben. Am Judenplatz hat er gewohnt, gleich um die Ecke ist heute das „Ofenloch“, eins der ältesten und besten Restaurants in Wien. Im Stadtpark die Denkmäler der Musiker, Johann Strauß ganz in Gold, worüber sich schon Alfred Polgar lustig gemacht hat. Auch in diesem Buch wunderbare Spiegelungen, Werfel über Kisch, Werfel über das Café Central. Aus neuerer Sicht der Blick von Elfriede Jelinek auf soziale Bedenklichkeiten in Wien. Touristenströme eilen durch die Hofburg. Blicke in Prunksäle. Auch in Schönbrunn: Andrang und Durchlauf. Wer denkt schon nach, daß in Wien die Minnesänger auftraten, Antisemitismus schon im 16. Jahrhundert wütete. Immer rasende Blicke, wo ist der Bus, das Timing klappt ja, wenn man ihn bald wieder sieht. Touristenfreuden und -leiden. Für Gruppen ist dieser Reiseführer nicht zu empfehlen. Denn er zwingt nicht nur zum Innehalten, er will zwischendurch, auf einer Bank, vor einer Kirche, in einem Café gelesen werden. Um die Jahrhundertwende, daran erinnert Richard Miklin, gab es in allen großen Kaffeehäusern ein vielbändiges Konversationslexikon. Das ist längst vorbei, doch dieses Wien-Buch gibt noch mehr. Nimmt man es zur Hand, ist Wien überall.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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