Eine Rezension von Elke Gilson

Die Katze Erinnerung

Monika Maron: quer über die Gleise
Essays, Artikel, Zwischenrufe.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000, 160 S.

Monika Marons erster Essayband, Nach Maßgabe meiner Begreifungskraft, erschien 1993 und enthielt neben einer Anzahl von Kolumnen für die Schweizer Kulturzeitschrift „Du“ vor allem die damals aufsehenerregenden und immer noch mit Gewinn zu lesenden Kommentare, welche die Autorin in den Jahren vor und nach der Wende über deutsch-deutsche Verhältnisse geschrieben hatte. In diesem Herbst wurden jetzt erneut zwanzig von Marons meist brisanten und klar formulierten „Essays, Artikel und Zwischenrufe“ in einem Buch gesammelt. Einige Vorträge und Radiokolumnen liegen erst mit dem neuen Sammelband in gedruckter Fassung vor, der Großteil der Aufsätze aber ist zwischen den Jahren 1993 und 1999 in namhaften deutschen Zeitungen („FAZ“, „Zeit“ und „Spiegel“) erschienen, wobei - und das ist mitunter schade - bei weitem nicht alle Texte, die in dieser Periode in den Medien veröffentlicht (und entweder heftig gelobt oder kritisiert) wurden, des neuen Buches für würdig befunden wurden.

Nur zwanzig Aufsätze also, die zum zweitenmal mit einem bei den großen Dichtern geliehenen Titel versehen wurden. Zeigte die Autorin mit dem ersten, von ihr kritisch abgewandelten, Kleist-Zitat noch ihre Skepsis und ironische Distanz gegenüber dem illustren Vorgänger, so zeugt der neue Titel eher von einer tiefen seelischen Verwandtschaft mit Uwe Johnson, dem Autor der Mutmaßungen über Jakob (1959). Die erstaunliche Einsicht in die Wirklichkeit der deutschen Nachkriegsgeschichte und kompromißlose, zuweilen sogar beängstigende Moralität dieses als „verhindertes Schicksalsbuch“ bezeichneten Romans werden im ersten Beitrag geschildert. „Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.“ Mit dem unvergeßlichen Anfangssatz seines ersten veröffentlichten Romans eroberte Johnson - allerdings erst vor wenigen Jahren, nach einer „Lektüre mit achtunddreißigjähriger Verspätung“ - das Herz der oft querdenkenden Schriftstellerin Maron.

Marons Affinität zu Johnson sowie ihr bewußtes Anknüpfen an die bewährte Formel der ersten Sammlung werden indes nicht nur aus dem Titel des vorliegenden Bandes ersichtlich. Das neue Umschlagbild zeigt, wie schon das der Taschenbuchausgabe von Nach Maßgabe meiner Begreifungskraft, eine elegante Stadtkatze, fotografiert von Jonas Maron, dem Sohn der Autorin, der seit einigen Jahren an der Umschlaggestaltung ihrer Bücher beteiligt ist und im vergangenen Jahr auch die Familiengeschichte Pawels Briefe (Berliner LeseZeichen, 9/1999) mit wunderbar aussagekräftigen Bildern der geschilderten Personen ausgestattet hat.

Die Katze des Umschlags löst nicht nur wegen ihrer Intelligenz, Eigensinnigkeit und schwarzen Eleganz Assoziationen mit der Schriftstellerin Maron aus. Seit geraumer Zeit repräsentiert das Tier im Œuvre der Autorin das freie, ehrliche und unverfremdete Leben, von dem Büroarbeitende wie die Heldin des Romans Stille Zeile Sechs (1991) eigentlich nur träumen können: „Man müßte eine Katze sein [...] irgendwo seine Nahrung holen, sich höflich bedanken und dann zu seinesgleichen ziehen und tun, wozu man Lust hat.“ Zu dieser Schlußfolgerung war Rosalind Polkowski vor Jahren schon gekommen. Eine ähnliche Vorstellung vom Vierfüßler muß es auch gewesen sein, die Jonas Blach aus den Mutmaßungen dazu veranlaßt hat, jenen quer über die Gleise gehenden Jakob Abs „wie eine Katze so unbedenklich“ zu nennen, denn Jakob war einer, „dem man das Leben ansehen kann“.

In der Auswahl des Umschlagbildes wird das alles vermutlich so seine Rolle gespielt haben, doch der Symbolcharakter der Katze reicht noch weiter. Aus den „Jahrestagen“ läßt sich schließen, daß das Tier für Uwe Johnson später noch eine andere Bedeutung gewann, die im Falle der hier zu rezensierenden Sammlung bestimmt nicht zu übersehen ist. In einem Gespräch zwischen Gesine und ihrer Tochter Marie heißt es in den „Jahrestagen“ am 2. Februar 1968:

   - Nie habe ich die Wahrheit versprochen.
   - Gewiß nicht. Nur deine Wahrheit.
   - Wie ich sie mir denke. [. . .]
   - Die Katze Erinnerung, wie du sagst.
   - Ja. Unabhängig, unbestechlich, ungehorsam. Und doch ein wohltuender Gesell, wenn
     sie sich zeigt, selbst wenn sie sich unerreichbar hält.

Gerade diese nie endgültig zu fassende Erinnerung, unabhängig, unbestechlich, ungehorsam, ist der wahrscheinlich wichtigste gemeinsame Nenner der gesammelten Aufsätze Monika Marons und bildet zugleich eine Brücke zu ihren literarischen Buchprojekten des letzten Jahrzehnts. Marons Geschichten, die fiktiven wie die wahren, erzählen fast alle von den manchmal unheimlichen Tücken des menschlichen Gedächtnisses und können durchweg als ein Plädoyer für einen „menschengemäßen“ Umgang mit der Erinnerung und dem Vergessen gelesen werden. Wie sich zuletzt aus den reflexiven Momenten in der Familiengeschichte Pawels Briefe herausstellte, besteht ein wichtiges Anliegen der Autorin gerade darin, klarzumachen, weshalb das Vergessen, das seit einiger Zeit zu Unrecht unter Verdacht steht, „dem Bösen und Schlechten in uns dienstbar zu sein“, nicht nur negativ bewertet werden sollte. „Der Feldzug gegen das Vergessen“, der Perioden kennzeichnet, in denen unbequeme, weil schuldige, Vergangenheiten aufgearbeitet - „bewältigt“ - werden müssen, erscheint Maron, wie sie in einem 1995 in Japan gehaltenen Vortrag erläuterte, als „unmenschlich“, weil das Vergessen als „Ohnmacht der Seele“ auch eine unverzichtbare Rolle spielt beim Aufrechterhalten der psychischen Gesundheit.

Diese alles andere als behagliche Überzeugung bestimmt nicht nur die Auseinandersetzung der Autorin mit der eigenen Vergangenheit und der ihrer Familie, sie veranlaßte Maron 1998 auch dazu, Martin Walser zu verteidigen, als ihm anläßlich seiner Friedenspreisrede unterstellt wurde, er habe dazu aufgerufen, die deutsche Kriegsschuld zu verdrängen. Vom gleichen Willen, schwarz-weiß gemalte Bilder von ihrer allzu einfachen Eindeutigkeit zu befreien, sind ebenso Marons Texte geprägt, in denen es nicht so sehr um die Konfrontation mit der (persönlichen oder nationalen) Vergangenheit geht, sondern eher um die aktuelle Lage im vereinigten Deutschland. Während die Parabel von den zwei deutschen Brüdern beiden Teilen des Landes einen Spiegel vorhält, ging es Maron in den Artikeln „Im Osten nicht als Opfer?“ - nicht zufälligerweise ursprünglich in der ehemals ostdeutschen „Berliner Zeitung“ gedruckt -, in „Vier Archetypen“ (1993) sowie in der Rede zur Verleihung des Theodor-Wolff-Preises („Penkun hinter der Mauer“) darum, nachdrücklich auf die Existenz eines wesentlichen Teils der ostdeutschen Bevölkerung hinzuweisen, der von den Medien gern vergessen wird, nämlich die Gruppe von Menschen, die nicht „larmoyant und nostalgisch oder dumpf und rechtsradikal, undemokratisch und wahrscheinlich sogar demokratieunfähig“ sind.

Einige Texte in quer über die Gleise können, wie schon das erwähnte Porträt Uwe Johnsons, nicht nur für politisch und geschichtlich Interessierte, sondern ebenfalls für Germanisten von Bedeutung sein. Erstens gibt es da die - im Rahmen der Zürcher Poetikvorlesungen entstandene - Arbeit, in der Maron als fast schon professionelle Rezeptionsforscherin die Rezensionen zu ihrer Familiengeschichte Pawels Briefe analysiert hat. In „Rollenwechsel“ klagt die Autorin ihr Recht auf Buchbesprechungen ein, die das, was sie geschrieben hat, wenigstens genau nehmen. Aber selbst wenn sie das tun würden, was nun mal nicht von allen Rezensenten erwartet werden kann, dann noch würden, und jetzt zitiere ich Maron aus einem Text, den sie sich wahrscheinlich für den nächsten Sammelband aufbewahrt hat, „dieselben Zeichen zu verschiedenen Zeiten und unter andersartigen Umständen zu gegensätzlichen Erkenntnissen führen“. („Wer ist Angela Merkel? Von den Trümmern der DDR zur Krise der CDU - Ein deutsches Gesicht“, „FAZ“ vom 25. 2. 2000) Mit anderen Worten, auch dann wird die Möglichkeit, an einem Buch „einander absolut ausschließende Eigenschaften“ wahrzunehmen, nicht, wie Maron zu vermuten scheint, aufhören zu bestehen. Und das ist auch gut so, denn nur vergessenswürdigen Schriftstellern gelingt es, selber alle Interpretationsmöglichkeiten der eigenen Bücher zu erahnen.

Als zweite Fundgrube für Germanisten enthält der Band auch die beiden Berichte, die Maron 1976 für die Stasi geschrieben hat und die bei der Lektüre gleich deutlich machen, weshalb die Skandalgeschichte, die 1995 um diese beiden Texte gewoben wurde, alles in allem ziemlich grotesk war. Denn, was Monika Maron der Staatssicherheit nach einer Reise nach Westberlin in all ihrer Naivität erklären wollte, klang damals unter anderem so: „Und ich muß nach Westberlin fahren, um eine politische Veranstaltung zu erleben, in der nicht Klischees, organisierte Sprechchöre und unzählige Sicherheitsmaßnahmen jedes Gefühl bremsen, ehe es entsteht. Ich empfand, um wie viele Möglichkeiten und Gefühle, die wir in uns haben, wir betrogen werden. Der Verzicht auf einen gewissen Wohlstand, auf Konsum und spanische Austern ist nichts und gar nichts im Vergleich zum Verzicht auf freiwillige Gemeinschaft, die lebendig ist in ihren Zielen und in ihrer Arbeit.“ Die Berichte bilden ein wichtiges Zeugnis aus der Entstehungsgeschichte des ersten Romans Flugasche (1981). Hat Maron die eben zitierten Sätze doch wenig später in den Mund ihrer Heldin Josefa Nadler gelegt.

Weil sie neben der Schärfe der Beobachtung auch die subtile Ironie belegen, die schon das Schreiben der Reporterin Maron kennzeichnete und die der Schriftstellerin später zur stilistischen zweiten Natur wurde, sind die beiden kurzen Texte nicht nur informativ, sondern darüber hinaus auch noch sehr unterhaltsam. Dasselbe gilt für die Aufsätze, die auf ein Thema zurückgreifen, das für Schriftstellerinnen offensichtlich so unvermeidlich ist, daß es schon im ersten Essayband wiederholt behandelt wurde: die „weibliche Kreativität“ im Vergleich zur männlichen („Der Mann als Mensch“), die weibliche Fortpflanzungsfähigkeit („Girlies“) gegenüber der männlichen („Versagen ist männlich“). Ironie und Selbstironie kennzeichnen auch die beiden abschließenden Artikel der Sammlung, die schlagfertige Widerlegung der Auffassung, Berliner seien aufschneiderisch und barsch („Eigentlich sind wir nett“), und die gefühlvolle Prüfung der eigenen widersprüchlichen Erwartungen angesichts des nicht aufzuhaltenden Alters („Ich will, was alle wollen“).

Zum Schluß muß noch ein Grund erwähnt werden, weshalb dieses Buch, wenigstens in seiner ersten Auflage, auch für Sammler von Kuriositäten von Interesse sein könnte. Es ist das erste und - wie sich aus Marons vergnügter Reaktion auf die Rückkehr der „FAZ“ zur alten Orthographie ableiten läßt - wahrscheinlich einzige Buch von Monika Maron in der neuen Rechtschreibung.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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