Eine Rezension von Gisela Reller

Nur Tote haben keine Angst

Andrej Kurkow: Petrowitsch
Aus dem Russischen von Christa Vogel.
Diogenes Verlag, Zürich 2000, 444 S.

Meine Rezension zu Andrej Kurkows Roman Picknick auf dem Eis (BLZ 4/2000) schloß mit den enthusiastischen Sätzen: „Die Ansprüche der Medien und Leser sind nach seinem Erstling in deutscher Sprache außerordentlich hoch. Man darf gespannt sein.“ Gespannt nahm ich nun Kurkows zweiten Roman in deutscher Sprache, Petrowitsch, zur Hand. Petrowitsch ist ein Chamäleon und hat die Ehre, den Vatersnamen des Großvaters unseres Romanhelden zu tragen. Außerdem hat dieses Chamäleon auch noch die Ehre, den Titel des Buches abzugeben, obwohl es im Buch nur eine völlig belanglose Rolle spielt. Kurkow äußerte sich mal anläßlich einer Buchlesung, daß in jedem seiner Bücher ein Tier mitspielt. Doch während Pinguin Mischa im vorangegangenen Buch als unvergeßliche Verkörperung stummen Leidens, Mitfühlens und Anklagens in die Herzen der Kritiker und Leser gelangte, bleibt das Chamäleon Petrowitsch ein dummes Reptil, das ab und an die Farbe wechselt. Schade.

Ärgerlich ist leider auch das ganze Buch, vom Verlag als spannender Abenteuerroman angepriesen. Der Roman beginnt mit einer Leiche, die auf einem Friedhof ausgebuddelt wird, und endet mit der Leiche eines erschlagenen Fotografen, dessen Dienste unser Romanheld Kolja gerade Tags zuvor in Anspruch genommen hat. Was dieser Tod mit Kolja zu tun hat? Wahrscheinlich nichts. „Die gegenwärtigen Zeiten sind einfach so, voller Anspannung und Mord und Totschlag.“ Zwischendurch wird noch ein Ermordeter aus dem Wüstensand gegraben, eine andere Leiche „einfach so“ in Koljas Zugabteil geworfen. Kolja kriegt es ob solcher Geschehnisse immer mal wieder mit der Angst zu tun: „Nur Tote haben keine Angst.“ Aber auch der Leser hat keine, weil ihm solche und andere Ereignisse des Buches ziemlich gleichgültig bleiben.

Worum geht es in diesem langweiligen Buch des Erfolgsautors Andrej Kurkow - „Ein Autor von Gogols Gnaden“ („Der Tagesspiegel“) - eigentlich? Nikolai Sotnikow, genannt Kolja, ist ein arbeitsloser Geschichtslehrer, der in Kiew lebt. Gleichzeitig mit einer Einzimmerwohnung übernimmt er vom Vorbesitzer ein volles Bücherregal, in dem sich auch ein dicker Band von Taras Schewtschenko befindet, der mit vielen handschriftlichen Kommentaren versehen ist. Kolja glaubt, Hinweise auf ein verschollenes Tagebuch des ukrainischen Nationaldichters entdeckt zu haben, will es finden und macht sich auf den beschwerlichen Weg nach Kasachstan, wo er den vergrabenen literarischen Schatz vermutet. Bei einem Sandsturm kommt er fast ums Leben, doch zieht ihn das Kamel eines kasachischen Nomaden aus dem Sand. In Dshamscheds Jurte wird der Entkräftete von dessen Töchtern aufgepäppelt. Als es Kolja wieder gutgeht und er seinen Forscherweg fortsetzen kann, gibt ihm der alte Kasache Kolja Proviant, ein Kamel und seine wunderschöne Tochter Gulja mit. Unterweg stoßen die beiden auf drei weitere Zeitgenossen. Zwei sind ukrainischer Nationaltität und Mitglieder der UNA-UNSO-Partei (was immer das ist), einer ist ebenfalls Ukrainer und Offizier des Staatssicherheitsdienstes. Jetzt haben fünf dasselbe Ziel: den Taras- Schewtschenko-Schatz zu finden und nach Hause in die Ukraine zu tragen. Sagte ich es schon? Natürlich verlieben sich der in der Ukraine lebende Russe Kolja und die Kasachin Gulja ineinander, was der Verlag eine bezaubernde Liebesgeschichte nennt.

Ich vermute, das Buch soll eine Absage an jeglichen Nationalismus sein, sei er russischer, ukrainischer oder kasachischer Spielart. So edel das Anliegen, so enttäuschend die wirr-skurrile erzählerische Umsetzung.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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