Eine Rezension von Volker Strebel

Deckname „Tvár“

Jirí Gruša: Das Gesicht - der Schriftsteller - der Fall
Mit einem einleitenden Essay von Utz Rachowski, einem Nachwort von Ludger Udolph und einer Bibliografie von Susanne Fritz.
Thelem bei w.e.b Verlag, Dresden 2000, 119 S.

Unter dem Leitmotiv „Literatur in Mitteleuropa“ wurde 1999 zum zweitenmal eine Dresdner Poetikdozentur vergeben. Mit dem tschechischen Schriftsteller und Diplomaten Jirí Gruša war, wie sich herausgestellt, eine gute Wahl getroffen worden. Der ehemalige Bürgerrechtler, Unterzeichner der Charta 77 und nachmalige Exilant vertritt dieser Tage sein Land als Botschafter in Wien. Nach seiner Ausbürgerung aus der CSSR im Jahre 1981 lebte Jirí Gruša in Bonn. In der Bundesrepublik waren auch Grušas Romane erschienen und später, in den 90er Jahren, Gedichtbände, die Jirí Gruša in deutscher Sprache geschrieben hat.

In den drei Dresdner Poetik-Vorlesungen äußert sich Jirí Gruša zum erstenmal ausführlich über biographische Hintergründe seines literarischen Schaffens: „Nach 1948 kamen fast 50 Jahre Diktatur, und meine Generation kriegte den vollen Anprall ab!“ Gruša gehörte zu jener Generation von Dichtern, die in der CSSR der 60er Jahre versuchten, die parteilich auferlegte Doktrin eines ,sozialistischen Realismus‘ zu umgehen. Es handelte sich dabei nicht um ledigliche Moden oder bloße Spielarten von Kunstauffassungen - es ging ums Ganze im umfassenden Sinne, um Identität schlechthin.

Wenn Gruša in seinen Vorlesungen aufzeigt, daß ein poetisches Kunstverständnis ausschließlich der Poesie Untertan ist und somit keinerlei Verpflichtungen anzunehmen hat, dann belegen seine biographischen Berichte auf schmerzhafte Weise den Zoll für derlei Auffassungen. Im Tauwetter nach Stalins Tod hatte Jirí Gruša mit Freunden eine Zeitschrift organisiert, deren Titel - Tvár (das Gesicht) - metonymisch die Einforderung des individuell Unverwechselbaren anmahnte. Die Sache endete bald in einem staatlich organisierten Fiasko. Ermittlung wegen Spionageverdachts, Untersuchung des Schriftstellerverbandes und eine Staatsanwaltsrüge, „vorgetragen im Knast. Und im Herbst lag ich mit einem Magendurchbruch im Krankenhaus, stellungs- und freundelos, aber mit Poetik“. Jirí Gruša hatte sich seine ersten Ohrfeigen eingefangen, aber er hat sie sich als Dichter eingefangen! „Die ,mani politi‘ brachten mit eine ,lingua pulita‘, die Sprache frei von politischer Pollution der Ära. Den Ausstieg aus der Diktion der Diktatur. In einem nicht allzu guten Gedicht von mir rief der Dichter: Hin, nach Ikarien!“ Gruša hatte, in der Tradition des tschechischen „Poetismus“ der 20er Jahre, den Einstieg in die Traumwelt der Phantasie gefunden, einen völlig neuen Raum, der uns greifbar ist, sobald wir uns ihm öffnen, und der jenem verschlossen bleibt, der ihn vermessen will. Mit dem Laboratorium realsozialistischer Machbarkeit eines ,neuen Menschen‘, vorgedacht von den Gebrauchsanweisungen des ,historischen‘ und ,dialektischen Materialismus‘ paßte solche Dichtung nicht zusammen. „Das Schreiben also bloß als Teilnahme an einer planmäßigen Weltverwandlung? Nein danke! Ich konnte das physisch nicht. Ich wollte Konfigurationen, die niemand vorzusagen hat und kein anderer erlebt. Die zu erkennen und festzuhalten sind. Verlangsamung der Blitze. Subjektive Realitäten im Zusammenspiel, ein Netz der Sinnbindung, Knoten, Kontexte.“

Die tschechische Wirklichkeit hingegen hatte von 1962 bis 1989 geheime Spitzelberichte über Jirí Gruša zusammengetragen - Deckname Tvár!

Hervorzuheben ist die besondere Aufmachung dieses Bändchens, welches durch eine Bibliographie der Veröffentlichungen Jirí Grušas von Susanne Fritz vervollständigt wird. Der Titel von Ludger Udolphs Essay „Über Jirí Grušas Poetik“ täuscht! Er stellt auf wenigen Seiten einen ungewöhnlich sachkundigen Überblick über die moderne tschechische Literatur dar, wie er sonst kaum in deutscher Sprache zu finden ist. Die eigentliche Hinführung zu Jirí Grušas Werk und Leben bildet die Grußansprache von Utz Rachowski, und dieses wiederum hat seinen Ursprung in der Verwandtschaft beider Schriftsteller als Verfolgte und Inhaftierte im ehemaligen „realen Sozialismus“, der eben nicht, wie in manchen germanistischen Oberseminaren suggeriert wird, lediglich ein verdorbenes Spielchen dargestellt hat, welches sowieso keiner ernst genommen hat.

Jirí Gruša erinnert in seinen Vorlesungen an seinen Jugend- und Dichterfreund Jirí Pistora, der sich im Zuge der Okkupation der sozialistischen Bruderländer im August 1968 sein Leben genommen hatte. Poesie, die nur sich selbst gehört. Es ist nicht leicht, ein Dichter zu sein!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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