Eine Rezension von Sibille Tröml

„Keinem glaub, der meine Verse lobt“, oder Warum Lob und Anerkennung nicht das gleiche sind

Friedemann Berger: Archälogie
Von der Errichtung der großen Mauer bis nach ihrer Zerstörung.
Ausgewählte Gedichte 1961-1999.
Faber & Faber Verlag, Leipzig 2000, 128 S.

„Archälogie“ heißt übersetzt: „Gespräch über zurückliegende Zeiten“ - Mit diesen leider nicht gerade glücklich gewählten Worten versuchen Faber & Faber bzw. Friedemann Berger, alten und - wie zu hoffen ist - auch neuen Lesern einen Gedichtband nahezubringen, der einen durchaus gelungeneren, d. h. aussagekräftigeren, assoziationsfreudigeren und weniger abgeschlossenen Titel (und Untertitel) verdient hätte. Sicher, es handelt sich bei diesem „Geburtstagsgeschenk“ des Verlages an seinen Autor - er feierte im April sein 60. Lebensjahr - vorwiegend um eine Sammlung von „alter“ (archaios) „Rede“ (logos), altem Wort. Doch: Unterscheidet sich der vorliegende Band damit von anderen, chronologisch rückblickenden Textsammlungen?

Die Frage wiegt um so schwerer, da ein gleichnamiges Gedicht des einstigen Lektors, Cheflektors und späteren Leiters des Gustav Kiepenheuer Verlags mehr ist als nur ein „Gespräch über zurückliegende Zeiten“. Entstanden 1998/99 und damit wohl zu jenem Drittel von Texten zählend, welche hier erstmals veröffentlicht werden, zeigt es, wie sehr für den Schreibenden das vermeintlich Zurückliegende auf so etwas wie einem Zeitstrahl allenfalls bildlich gesehen zurückliegt, es aber untrennbar mit dem Vorgestern, dem Gestern und dem Heute verbunden - „verstrahlt“ - ist. Dies wiederum gilt für das Selbst-Erlebte, das Selbst-Erfahrene und das Selbst-Gedachte ebenso wie für das Ererbte und das Mitbekommene. Nicht zuletzt darin manifestiert sich denn auch die inhaltliche Eigenheit der Bergerschen Lyrik, die in einer für den Leser nicht eben leicht zugänglichen Art Geschichte und Gegenwart, Orte und Personen, Gedachtes und Getanes zusammenführt oder gegeneinandersetzt. Harmonie ist dabei ebenso selten zu finden wie Freude, die - wenn man es genau betrachtet - in den in dieser Auswahl präsentierten Gedichten eigentlich völlig fehlt. Und doch sind es nicht Begriffe wie Freudlosigkeit, Verzweiflung oder gar Nihilismus, mit denen man der emotionalen und mentalen Welt der auf dem Einband zu Recht als „Artefakte“ bezeichneten Texte beikommt; Freudenlosigkeit bzw. Freudenferne sind zwei sicher ungewöhnlich klingende, aber durchaus zutreffende Bezeichnungen für das hier charakteristische textinterne Fehlen des Schönen. Ein Grund für ebenjene Haltung - man scheut sich, bei Berger den Begriff Emotionen zu verwenden - ist seine Skepsis gegenüber allem Vorgegebenen, allem als Linie Propagierten und zur Wahrheit Deklarierten, allem vermeintlich Eindeutigen und Absoluten - was ihm denn auch nach einer Lesung bei der Gruppe 47 (1965) in der 1966er Lyrikdebatte den Vorwurf des Skeptizismus und die Abstempelung seiner Gedichte als „Mülliteratur“ einbrachte. Ein weiterer Grund für diese Distanz zum Erfreulichen und Schönen ist ein fortwährendes Sich-Bewußtsein der eigenen lokalen und damit geographischen sowie der historischen und damit politischen Herkunft. Die in einer der vier Vorreden genannte und kommentierte Tatsache, daß der Vater aus dem Krieg nicht zurückkehrte, scheint in den Gedichten dafür allerdings ohne Belang. Bedeutsamer als dieser für den „öffentlichen“ Friedemann Berger wohl viel zu private Ansatz ist ihm die Tatsache, daß im Ort seiner Geburt (Sroda) polnisch gesprochen und daß der Krieg „auf deutsch geführt“ wurde. Eben dadurch wurde und wird ihm - und das ist wiederum eher ungewöhnlich für seine Generation - Adornos nicht selten zur Floskel verkommener Einwand vom Schreiben nach Auschwitz zum ganz persönlich fundierten Ausgangspunkt, Problem und lyrischen Bewährungsfeld. Wenn es im bereits erwähnten Gedicht „archälogie“ allerdings heißt, „in die geschändete sprache gezeugt suchtest du ein versteck im zwischenwort“, dann sollte man sich vor allzu schnellem Weiterlesen angesichts dieses für die Bergersche Lyriksprache „leichten“ Satzes hüten. Was hier einfach „versteck“ genannt wird, ist mehr als nur ein Ort des Verbergens und der Zuflucht; es ist - wie es scheint - vor allem Schutz und Speer, ist Refugium und (Angriffs-)Waffe in einem. Allein der auf den ersten Blick zwar ungewöhnliche, aber wohlklingende, wohlgeformte Begriff „zwischenwort“, der sich beim zweiten Hinschauen als ungebräuchlich, konstruiert und sperrig erweist, ist ein Beispiel für diese Kopplung von Verteidigung des Eigenen (bzw. des freundschaftlich verbundenen anderen) und Angriff auf das (ihm) Fremde.

Natürlich vollzieht sich ebenjene Verbindung sowohl auf der formalen, sprachlichen, stilistischen Ebene als auch auf der inhaltlichen, gedanklichen. Und gerade an diesem - zentralen - Punkt werden sich die Geister der unbefangenen und vielleicht ungeübten Friedemann-Berger-Leser scheiden: in Befürworter (bzw. Neugierige) und Ablehnende (bzw. Zweifelnde), in Verstehende (bzw. Ahnende) und Nicht-Verstehende (bzw. Nicht- Ahnende), in Sich-einbezogen-Fühlende und Sich-ausgeschlossen-Fühlende. Grund dafür ist die Tatsache, daß die in diesem Band versammelten Gedichte - abgesehen von jenen, die in den frühen 60ern entstanden - häufig auf die eine oder andere Art und mit unterschiedlicher Intensität hermetisch sind. Das damit verbundene Gefühl des Nicht- (vollkommenen)-Eindringen-Könnens bzw. des Sich-Ausgeschlossen-Fühlens ist manchmal punktuell, d. h. es rührt her aus einem „plötzlich fallenden“ Wort, einem Namen oder einem Ort. Manchmal resultiert es auch aus dem Text als Ganzem, sei es, da jener mit der Pekinger Zeit des Autors (1985-1990) verbundene Welten - im doppelten Wortsinne - verdichtet, sei es, da die Gedichte Zeugnis ablegen von der Belesenheit ihres Verfassers. Nun handelt es sich ja gerade dabei um eine alles andere als kritikwürdige oder gar verurteilenswerte Erscheinung. Allein der Leser vermag - vor allem aufgrund der Gestaltung des Bandes - nicht immer von dieser Gebildetheit zu „profitieren“, wenn er sich nicht gar gelegentlich überfordert sieht, da er diese (noch) nicht (annähernd) teilen kann. Zwar findet sich gleich zu Beginn eines jeden der vier schlicht mit der entsprechenden Zahl benannten Buchteile eine Art Autoren-Vorrede, welche im Distanz zum „Ich“ schaffenden, gleichzeitig aber Nähe und Vertrautheit signalisierenden „Du“ verfaßt wurde und anstelle eines (erklärenden) Nachwortes als biographisch und gedanklich gestützte Lesehilfe zu verstehen ist. Doch handelt es sich auch hierbei mehrfach um sehr dichte, verdichtete Dichter-Sätze. Der eine wird dadurch das Gesamtkunstwerk des Bandes nicht gestört sehen und es begrüßen, der andere wird sich zwar mit Erklärendem, zugleich aber auch mit zusätzlich Rätselhaftem konfrontiert sehen. Ähnlich wird es manchem mit den am Buchende auf knapp vier Seiten zu findenden Anmerkungen gehen. Hier ist es indes weniger der Inhalt, welcher aufgrund der Kürze ein in Griffweite liegen-des Lexikon trotzdem sinnvoll macht, als vielmehr die Frage der - nachvollziehbaren - Übersichtlichkeit und damit die des Fündigwerdens. Was angemerkt wird, ist nämlich weder in den Texten gekennzeichnet, noch erscheint bei den entsprechend der Gedichtfolge angeordneten kurzen Erläuterungen ein Seiten- oder Titelverweis. Vom Leser sind also Zeit, Kreativität, eine unerschütterliche Neugierde sowie ein vollständiges Sich-Einlassen auf das Geschriebene gefragt, womit der kleine Anmerkungsapparat und die bis auf wenige Ausnahmen interpunktionslosen Gedichte miteinander korrespondieren.

Manch einer wird sich dieser intellektuellen Herausforderung stellen, sie annehmen (können und wollen) und sich intensiv damit auseinandersetzen. Manch einer wird sich erst einmal auf die Suche nach annäherbaren Texten und Textzeilen begeben. Und mancher mag möglicherweise auch resignieren oder gar kapitulieren. Letzteres wäre schade und zu bedauern, ungeachtet der Tatsache, daß den vorangegangenen Zeilen ein Loben im Sinne von kritikfreier Würdigung fehlt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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