Literaturstätten von Daniela Ziegler

„Von Goddelau zur
Weltbühne“ *

Das Büchnerhaus in der Weidstraße 9

In Darmstadt „büchnert“ es allenthalben: Vor dem Staatstheater liegt die Georg-Büchner-Anlage, im Martinsviertel befindet sich der Georg-Büchner-Buchladen und im „Literaturhaus“ die Luise-Büchner-Bibliothek. Betritt man den Hof des Hauses Grafenstraße 39, gelangt man an eine von wildem Wein bewachsene Mauer, worauf geschrieben steht:

„Gartenmauer von Georg Büchners Elternhaus, an die Ende Februar 1835 zur Vorbereitung seiner Flucht tagelang eine Leiter angelehnt war.“ (Nämlich, bevor sein Steckbrief veröffentlicht wurde und er ins Exil gehen mußte: Was nicht da steht.)

Und kommt der Fremde nach Goddelau (Ortsteil von Riedstadt mit 5 125 Einwohnern), so nennt man ihm als Sehenswürdigkeit zunächst das Naturschutzgebiet am Altrhein und fragt sodann: „Sagt Ihnen der Name Büchner was?“ Dann legt man dem Fremden das Büchnerhaus warm ans Herz. Denn Georg Büchner ist in Goddelau geboren.

An fast jeder Straßenecke zeigt ein Wegweiser zu seinem Geburtshaus in der Weidstraße Nr. 9. Verfehlen kann man es nicht. Ist das Museum geöffnet, steht das Hoftor zum Anwesen einladend offen, und für 5 Mark darf man das proper renovierte Fachwerkhaus aus dem 17. Jahrhundert betreten. Dafür bekommt man auch ein Faksimile des „Hessischen Landboten“ ausgehändigt: „Lassen Sie sich aber nicht damit erwischen ...“, mahnt uns augenzwinkernd Dirk Wenner, einer der vier sowohl freiwilligen als auch sachkundigen Helfer, die an den Sonntagen die Leiterin Rotraud Pöllmann unterstützen.

Nichts ist zu spüren von Publikumsmüdigkeit und gelangweilter Routine wie an musealen Orten mit langer Tradition. Jeder Besucher ist ein willkommener Gast, wird freundlich begrüßt und im übertragenen Sinne an die Hand genommen.

Der Heiner (das ist der Darmstädter) ist der Welt gegenüber weitgehend positiv eingestellt. Vor allem ist er redselig. Weiß er nichts zu sagen, ist seine Beredsamkeit eine Strafe, verfügt er über ein Reservoir an Wissen, ist seine Rede Belohnung, Bereicherung und angenehme Kurzweil. Dirk Wenners kompetente Begleitung durch das Büchnerhaus gehört letzterer Kategorie an.

Da originale Gegenstände aus Büchnerschem Besitz nicht vorhanden sind, griff man zur Beschreibung seines Lebenswegs und seiner familiären Hintergründe zu einer Inszenierung, zu sogenannten „Raumszenen“. Der Nachteil von Inszenierungen ist, daß man sie erklären muß; der Vorteil, daß dadurch die zwischenmenschliche Kommunikation gefördert wird. Vor Ansichten des Darmstädter Schlosses, der landschaftlichen Umgebung, dem Ried (ausgesprochen: Rrrried - was aber nur der Heiner richtig kann) und des Straßburger Münsters sitzt an einem Tisch die imaginäre Familie Büchner. Die Eltern sind durch Stühle an den beiden Stirnseiten, die sechs Kinder durch Schemel symbolisiert.

Eine Familie, die der Öffentlichkeit zugewandt war: der Vater Ernst Büchner, Arzt am nahe gelegenen Philippshospital, die Mutter Caroline Büchner, geb. Reuss, Tochter eines Verwaltungsbeamten ebenda; neben Georg, dem Ältesten und heute Berühmtesten die Söhne Alexander (Schriftsteller), Wilhelm (Fabrikant und Reichstagsabgeordneter), Ludwig (Arzt und Gründer eines Arbeiterbildungsvereins) sowie die Töchter Luise (Schriftstellerin und aktiv in der Verbesserung der Mädchenbildung) und Mathilde, die ihre Schwester unterstützte.

Eine kupferne Landkarte von Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel hängt dräuend über einem Bündel Flugschriften, dem „Hessischen Landboten“, und an den Wänden die Namenslisten der verhafteten und liquidierten jungen Männer, die konspirative Vereinigung um Pastor Ludwig Weidig. Hier findet man auch die legendäre Leiter wieder (siehe oben) bzw. ihre Nachbildung sowie den Steckbrief.

An einem Tisch am Fenster sitzt vor einem Manuskript eine Drahtgestalt, vor ihr medizinische Geräte und drei, vier Nachbildungen von Flußbarben. Büchner ist in Straßburg und schreibt seine Doktorarbeit. „Warum ist er aus Draht?“ „Weil die Nerven blank liegen. Nicht nur die der Barben, deren Nervensystem er erforscht, sondern auch seine eigenen.“ (Es muß einem halt gesagt werden.) Zitate aus Büchners Stücken und Schriften sind dahinter in Form verschiebbarer Kulissen angebracht: eine Einladung zum Spielen und Raten, aus welchem Stück sie sind.

„Der erste Stock des Hauses verträgt keine 30 Paar Füße“, sagt Herr Wenner. „Schulklassen müssen immer geteilt werden. Das Haus ist alt und verträgt nicht mehr viel.“ In dem Raum, den die kleine Arztfamilie einst bewohnte und wo Georg auf die Welt kam, ist die Büchner-Bibliothek untergebracht, die noch auf Ergänzungen sowie auf Büchnerforscher wartet, die herzlich eingeladen werden, an den beiden graugestrichenen Tischen aus dem Philippshospital zu arbeiten („Nein, die Tische sind natürlich nicht aus der Büchnerzeit. Es sind zwar Altbestände aus dem Philippshospital, aber mehr symbolisch gemeint.“)

Büchners Stücke gehören zum Standardrepertoire der „Weltbühne“: Zu einer Kulisse aus Theaterrequisiten, die das Darmstädter Staatstheater zur Verfügung stellte, sind in einer Videocollage Interviews mit Georg-Büchner-Preisträgern und Standfotos der wichtigsten Büchnerinszenierungen aus mehreren Jahrzehnten zusammengestellt.

Im ehemaligen Kuhstall (die steinernen Futtertröge sind noch erhalten) ist die „Galerie am Büchnerhaus“ untergebracht, ein kultureller Treffpunkt, in dem neben büchnerbe-zogenen Vorträgen („Automat und Drehorgel - Zur Bedeutung mechanischer Instrumente bei Georg Büchner und seinen Zeitgenossen“) auch Kabarett, Ausstellungen und Lesungen stattfinden.

Zur ereignisreichen und mittlerweile 50jährigen Geschichte der Erhaltung und letztlichen Renovierung des Anwesens Weidstraße Nr. 9 nur so viel:

Es ist eine Geschichte aus dem deutschen Vereinsleben - worüber man von nun an bitte nicht mehr spotten möge! Zäh, beharrlich, aber vor allem enthusiastisch brachten sich die Büchnerliebhaber des „Verkehrs- und Verschönerungsvereins Goddelau e. V.“ bzw. des „Fördervereins Büchnerhaus e. V.“ immer wieder in Erinnerung, sei es durch ein „Büchner-Wochenende“, durch die Verteilung des „Hessischen Landboten“ am Hessentag oder durch eine Schüleraufführung von Leonce und Lena im Hof des Anwesens. Der Gelegenheiten gab es einige. Und man nutzte sie. Was jedoch wäre Beharrlichkeit ohne öffentliche Akzeptanz?

Alfred Hrdlicka ließ sich vom „Lenz“ zu Zeichnungen inspirieren, und die Büchner-Preisträger Reinhold Kunze, Alfred Muschg, Tankred Dorst, Durs Grünbein, Martin Walser und Günter Grass lasen zu Gunsten des Projekts in der Goddelauer Turnhalle.

Kurz: Das Büchnerhaus ist mittlerweile der Stolz der Gemeinde, einer Gemeinde idyllischer Beschaulichkeit, in der man offensichtlich nicht (mehr) arm ist.

Herzlichen Glückwunsch also den Initiatoren, Spendern, aktiven und passiven Vereinsmitgliedern, sowie nicht zuletzt den Schöpferinnen der Raumszenen Marianne Jacoby und Susanne Michelsky, die den Kontext Georg Büchners weit über dessen kurze Lebens- und Arbeitszeit hinaus gründlich und liebevoll veranschaulichen.

Und wem der Kopf nach dem Gesehenen und Gehörten allzusehr raucht, versuche, auf der Bank vorm Haus (Spende des Philippshospitals) die Aura von Zähigkeit und Beharrlichkeit zu erspüren, die hier als Büchnersches Vermächtnis offenbar immer noch schwebt ...

* Titel der Ausstellung


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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