Eine Annotation von Gabriele Brang


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Weiß, Norbert:

Fersengeld

Vorstadtgeschichten.
Verlag Die Scheune, Dresden 1999, 71 S.

Kennen Sie dieses Gefühl beim Lesen fremder Kindheitserinnerungen? Irgendwann ertappt man sich bei dem Gedanken, sofern man mit dem Autor auch nur annähernd im gleichen Alter ist und aus einem sozial ähnlichen Umfeld kommt, hier wird ein Teil deiner eigenen Kindheit lebendig. Fersengeld benennt Weiß seine Geschichten, die in Form und Länge eher biographischen Skizzen ähneln. Schade, daß er nicht „Lokaltermin“ gewählt hat, den Titel einer sehr kurzen Reflektion, mit dem das schmale Erzählbändchen beginnt. Lokaltermin Kindheit in der Dresdener Vorstadt, die Ende der fünfziger Jahre von Nachkriegszeit und dem nicht minder unheilvollen Kalten Krieg geprägt ist. Noch mehr von seiner im Haushalt lebenden blinden Großmutter. Sie, im Alter selbst wieder ein wenig kindisch, ist für den Heranwachsenden zum wichtigsten Bindeglied zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt geworden. „Großmutter hat einen Vogel mit grünem Gefieder“, läßt Weiß die Mutter in „Star“, eine ebenso anschauliche wie poetische Metapher für deren fortschreitende Erblindung verwenden. Das Kind belastet dieser Umstand nicht, denn Großmutter kann Geschichten erzählen, „die es in sich haben“, und sie kennt alle Lieder des Landshuter Arbeitergesangvereines, dem der Großvater einst vorgestanden hatte.

In „Das Bild“, seiner ausdrucksstärksten Geschichte, ahnt man, wie der Junge zu Zeiten tiefster Stalinära in der Schule unter dem politischen Druck der Lehrer gelitten haben muß.

Weiß erzählt verhalten, fast scheu, als hätte er die Befürchtung, mit jedem Wort zuviel würde er beim Leser eine Verklärung seiner Kinderzeit heraufbeschwören. Es entsteht der Eindruck, daß Weiß aus diesem Grunde seine ohnehin kurzen Geschichten bewußt aufbricht, in dem er ihnen eine noch knappere Erzählform, die literarische Miniatur, gegenüberstellt. So bleibt trotz der bildhaften und stellenweise impressionistischen Sprache leider vieles offen. Nur andeutungsweise erfahren wir etwas über den Vater, einen Spätheimkehrer aus russischer Gefangenschaft, die Mutter, die selbst in der Geschichte „Burschenschnitt“ konturlos bleibt, noch weniger über die erheblich älteren Geschwister. Weiß geht sogar so weit, daß er von sich nur in der dritten Person, „dem Jungen“, spricht und damit eine Distanz schafft, die sich auf Autor und Leser gleichermaßen auswirkt. Wie anfangs schon gesagt, schade, denn man hätte gern mehr über den „Jungen“ erfahren. Weiß kann es nämlich, mit wenigen Worten viel erzählen. Das ist nicht jedem Autor gegeben. In Fersengeld hat er damit gegeizt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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