Eine Rezension von Eberhard Fromm


Anmerkungen für den Kenner

Bernhard H. F. Taureck: Nietzsche-ABC
Reclam Verlag, Leipzig 1999, 256 S.

Was kann angesichts der riesigen Sekundärliteratur zu Friedrich Nietzsche (1844-1900) ein Nietzsche-ABC leisten?

Erstens könnte es eine Einführung sein für solche Leser, die sich schrittweise an den widersprüchlichen Denker heranwagen. Dazu müßten dann die alphabetisch geordneten Stichworte die wichtigsten Lebensstationen vorstellen, die bedeutendsten Werke knapp umreißen und wesentliche Kategorien, Schlagworte u. ä. aus dem Denken Nietzsches erläutern. All das findet der Leser hier nicht - das ABC ist also nicht als Einführung konzipiert.

Zweitens könnte es ein kleines Nachschlagewerk sein, in dem knappe Informationen über Nietzsches Leben, seine Freunde und Anhänger, seine Werke, seine Ansichten, seine Wirkung, den Streit um ihn usw. enthalten sind, die man je nach Interesse an den verschiedensten Stellen aufschlagen kann, eben von A bis Z. Das wäre ebenfalls eine Arbeit für den Einstieg, aber bereits mit etwas gehobenem Anspruch. Der Leser müßte schon ein wenig mit Nietzsche vertraut sein. Auch das wird hier nicht geboten.

Drittens könnte auch eine knappe Darstellung von Werk und Wirkung denkbar sein, so daß man der jeweiligen Aussage des Philosophen das gegenüberstellt, was daraus geworden ist, wie es interpretiert wurde und werden kann. Das wäre für all jene von großem Interesse, die über heutige Ausdeutungen zu Nietzsche kommen. Aber auch dieses Herangehen hat der Autor nicht gewählt.

Der Autor hat sich vielmehr total von der Intention getrennt, die der Titel beim Leser auslösen muß; denn ein Nietzsche-ABC verbindet man in der Regel mit dem Anfang, dem Einstieg, dem „leichtgemachten“ Überblick. Taureck bietet dagegen Anmerkungen zu Nietzsche, vielfach Miszellen in Gestalt kleiner selbständiger Abhandlungen, die aber zumeist hohes Sachwissen zu Nietzsche voraussetzen. Er verzichtet auf Sachinformationen zum Leben - Lebensdaten kommen so gut wie gar nicht vor, bis auf die Krankengeschichte, wo plötzlich detailliert die Entwicklung der Krankheit vorgestellt wird, allerdings nicht unter dem Stichwort Krankheit, sondern unter dem Stichwort Syphilis. Geboten wird auch nicht eine Übersicht der wichtigsten Werke Nietzsches, die man unter bestimmten erkennbaren Stichworten abrufen könnte. Und schließlich stellen die Stichworte auch keinen orientierenden Leitfaden durch das Denken Nietzsches dar; dafür fehlen einfach zu viele für Nietzsche bedeutsame Begriffe.

Das ABC, wie es Taureck buchstabiert, enthält Zitate von und über Nietzsche, Einfälle zu Aussagen, Positionen zu Personen, Wertungen von Ansichten und Haltungen. Er will Nietzsche vor allem als einen der bedeutendsten „philosophischen Pädagogen“ präsentieren. „Nietzsche redet zu den Deutschen wie ein Klassenlehrer, der Höchstes erhofft, zu Höchstem ermahnt und über die sich anders entwickelnden Zöglinge in höchste Wut gerät.“ Und er widmet der Wirkung Nietzsches im 20. Jahrhundert, das er „als die bisher destruktivste Epoche der Geschichte“ versteht, große Aufmerksamkeit. Das belegen solche ausführlichen Stichwörter wie „Hitler“, „Juden“, „Mussolini“.

Was jedoch auffällt, ist die zufällige und oft gewollte Auswahl der Stichwörter, die in vielen Fällen keine Orientierung bieten. So erhält z. B. Arthur Schopenhauer kein eigenes Stichwort - im Unterschied zu Chamfort, Dühring, Taine u.a. Ob das Stichwort „Engländer“ notwendig ist, wage ich zu bezweifeln; dagegen wäre „Griechen“ sicher angebrachter gewesen. Viele Stichwörter sind irreführend oder bieten kaum die dort erwartete Information. Warum Leipzig aufgenommen wurde, Naumburg oder Sils Maria aber nicht, bleibt das Geheimnis des Autors. Daß man Aussagen zum Nihilismus unter „Nichts“ findet, mag ja noch angehen; daß man aber ein wenig über den Einfluß Schopenhauers auf Nietzsche unter dem Stichwort (?) „Dies Buch“ suchen muß, ist mehr als seltsam. Und wenn man bei manchem Stichwort erfährt, daß es gar nicht so wichtig sei (bei „Metaphysik“ z. B. folgt ein Nietzsche-Zitat und danach Taurecks Feststellung: „Diese Bemerkung ist unoriginell“, aber später sei er über diese Position hinausgewachsen - nur in welcher Form, erfährt man nicht), ist man verstimmt.

Alles in allem muß festgestellt werden, daß Titel und Struktur des Buches irreführend sind. Man muß das Buch von der ersten bis zur letzten Seite lesen, dann kann man die interessanten Stellen entdecken, dann gewinnt man einen Eindruck von der Position des Autors. Aber wozu benötigt man dafür die alphabetische Aufsplitterung?

Das Nietzsche-ABC von Taureck liest sich wie Fußnoten zu Texten von Nietzsche und zu Nietzscheauslegungen aus verschiedenen Zeiten. Und Fußnoten bieten ja nicht selten interessante Anmerkungen. Nur - man braucht auch den Buchtext dazu, um alles zu verstehen ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
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