Eine Rezension von Eberhard Fromm


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Hannah Arendt - eine umstrittene Frau

Roland W. Schindler:
Rationalität zur Stunde Null
Mit Hannah Arendt in das 21. Jahrhundert.
trafo verlag, Berlin 1998, 259 S.

Es gibt Autoren, die gewinnen durch Einführungen, Interpretationen und Ausdeutungen. So bin ich mir ziemlich sicher, daß viele Leser keinen Zugang zu Martin Heidegger gefunden hätten, gäbe es nicht erläuternde Einführungen in sein Werk, erklärende Sekundärliteratur, die man als Einstieg benutzen kann.

Dann gibt es aber auch Theoretiker, die verlieren durch solche Interpretationen aus zweiter Hand; sie verlieren ihre Eigenart, ihre Frische, ihre Originalität. Dazu gehört ganz sicher Hannah Arendt (1906-1975). Diese Autorin, Zeitgenossin und scharfsinnige Kritikerin unseres Jahrhunderts muß man zuerst und vor allem ungefiltert durch die Sichten anderer lesen. Die Vielschichtigkeit ihrer Probleme, die unterschiedlichen Sichtweisen, die Eigenart ihrer Fragestellungen und ihrer Suche nach Antworten - all das öffnet sich einem nur, wenn man sich die Mühe macht, wenigstens einige ihrer großen und kleinen Werke - und einige ihrer Briefwechsel, natürlich vor allem den mit Karl Jaspers - zu lesen, ohne sich von anderen an die Hand nehmen zu lassen.

Erst danach sollte man entscheiden, ob man die Meinungen anderer über Hannah Arendt benötigt, ob man sich mit anderen um ihre Positionen streiten möchte, ob man sich also von einer ganz individuellen Rezeption in das weite Gebiet der wissenschaftlichen Interpretation begeben will. Wenn man das vorhat, stehen einem heute bereits erstaunlich viele Titel zur Verfügung, die das Leben und das Werk von Hannah Arendt zum Gegenstand haben. Einer davon ist Schindlers Untersuchung zum Gesamtwerk der deutschen Jüdin, die nach ihrer Emigration in den USA eine neue Heimat fand und mit ihren philosophischen und politologischen Arbeiten immer wieder für Aufsehen sorgte. Das Buch ist als Band 6 in der Schriftenreihe „Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft“ erschienen, die von Hanna Behrend im trafo verlag herausgegeben wird.

Roland W. Schindler (Jg. 1963) von der Bremer Universität will sein Buch als Einführung in das komplexe und für ihn kohärente Gedankengebäude der Hannah Arendt verstanden wissen. Ihre politische Theorie benenne präzise das Scheitern der humanistischen Rationalität, ohne daß es jedoch zur Resignation oder zur Flucht in den Pessimismus komme: „Statt dessen begreift sie die Stunde Null der Rationalität als die Chance zu einem Neuanfang. Für sie gilt es, neue Antworten auf die Fragen zu suchen, die an die in Auschwitz zerbrochene Tradition nicht mehr gerichtet werden können.“

Dieser Suche soll sich die vorliegende Studie widmen. Begonnen wird mit einer Übersicht über das methodische Repertoire bei Hannah Arendt. Es folgen dann Abschnitte, die sich mit dem Problem der jüdischen Identität und der Krise des Humanismus befassen. Weiter werden die Ansichten Arendts zur Moderne und zur Revolution analysiert, und es wird ihre Handlungstheorie vorgestellt. Intensiv befaßt sich Schindler mit der Diskussion um die Schrift Eichmann in Jerusalem und die damit verbundene Auseinandersetzung um die „Banalität des Bösen“.

Der Autor nutzt die ganze Vielfalt der Arendtschen Arbeiten: die großen Bücher Elemente und Ursprünge der totalen Herrschaft, Vita activa, Über die Revolution und das Spätwerk Vom Leben des Geistes; die frühen Artikel, Essays und die Lebensgeschichte der Rahel Varnhagen; und natürlich ihre reichhaltigen Briefsammlungen. Man wünschte sich an vielen Stellen, daß der Autor statt einer manchmal umständlichen eigenen Erklärung und Positionsbeschreibung mehr Hannah Arendt selbst zitiert hätte.

Wer sich den mühevollen Gang durch die Argumentation und Beweisführung des Autors ersparen, seine Ansicht zu Hannah Arendt aber trotzdem kennenlernen möchte, dem sei das Nachwort empfohlen. Hier wird auf zwei Seiten knapp und verständlich das Ergebnis des Buches resümiert.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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