Eine Rezension von Eberhard Fromm


Von kommenden Veränderungen

Eric Hobsbawm: Das Gesicht des 21. Jahrhunderts
Ein Gespräch mit Antonio Polito.
Carl Hanser, München 2000, 220 S.

Der namhafte britische Historiker Eric Hobsbawm (1917) ist in den letzten Jahren mit Arbeiten hervorgetreten, die sich deutlich von seinem bisherigen Forschungsgebiet - dem 19.Jahrhundert - unterscheiden: Es sind Versuche, das 20. Jahrhundert historisch in den Griff zu bekommen - Das Zeitalter der Extreme (1995) - und sich als Historiker mit der Zukunft auseinanderzusetzen - Wieviel Geschichte braucht die Zukunft (1998). Die jüngst erschienene Arbeit liegt zwischen diesen beiden Problemstellungen, denn sie lebt einerseits von den Einsichten aus der Jahrhundertanalyse, wird jedoch andererseits durch die Fragestellungen von Antonio Polito immer wieder in Richtung Zukunftsaussagen gelenkt.

Das Gespräch dreht sich um alle zentralen Fragen der gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklung: um Krieg und Frieden, um die Trends der westlichen Welt und das Weltdorf, um die Linken von heute, um den zukünftigen Menschentyp Homo globator, um die Bevölkerungsexplosion. Dabei scheut Hobsbawm nicht vor klaren Aussagen zurück, wenn es um Einschätzungen von Entwicklungen im 20. Jahrhundert geht, die möglicherweise ins 21. Jahrhundert reichen. Bei Zukunftsprognosen hält er sich allerdings mehr als bedeckt. Er möchte nicht in Gefahr geraten, die „Prognose eines Küchenpsychologen“ abzugeben, meint er mit leichtem Spott.

Beeindruckend sind auch die sehr persönlichen Aussagen, so zu seiner Mitgliedschaft in der kommunistischen Bewegung, der er seit seinem Beitritt in Berlin 1932 faktisch bis zur Selbstauflösung der englischen KP angehörte. Bei aller kritischen Distanz zu den Entwicklungen in den früheren sozialistischen Ländern betont er für sich, daß er seine Position für die Ideale des Kommunismus nicht bedaure, denn das ist für ihn ein Teil jener Tradition, die auf die Aufklärung sowie auf die amerikanische und Französische Revolution zurückgeht.

Auch das geradezu leidenschaftliche Bekenntnis zu seinem Berlinerlebnis zwischen 1931 und 1933 ist natürlich für eine Berliner Zeitschrift von besonderem Interesse. Der aus Wien kommende junge Hobsbawm lebte in Berlin wie „im Krater des Vulkans der europäischen Kultur und Politik. Die Zeit in Berlin hat mein Leben bestimmt.“ Die Entwicklung heute sieht er dagegen eher skeptisch, vor allem auch unter dem Aspekt der mentalen Mauer zwischen Ost und West. Ob Berlin im 21. Jahrhundert mehr werden wird als nur eine Hauptstadt, hängt nach seiner Meinung davon ab, „ob es wieder ein Zentrum der Wissenschaften und der Kommunikationsindustrien wird; aber vor allem, ob aus zwei Städten wieder eine wird“.

In dem Gespräch macht Hobsbawm auf eine Reihe von Entwicklungsproblemen aufmerksam, die seiner Meinung nach im 21. Jahrhundert von Bedeutung sein werden. Dazu gehören die Möglichkeit regionaler Kriege und das Verschwinden der Unterschiede zwischen inneren und internationalen Konflikten; die Tendenz zur Standardisierung und Homogenisierung im Rahmen der Globalisierung sowie das Herausfinden der Grenzen der Homogenität der Welt gegenüber ihrer Mannigfaltigkeit; die tiefreichenden Implikationen - insbesondere für die Politik - des unglaublichen Reichtums einzelner Personen; die Gefahr der Aushöhlung der Demokratie durch die Entpolitisierung und Privatisierung politischer Prozesse; die Konsequenzen der längst noch nicht abgeschlossenen Emanzipation der Frau, wobei in der selbständigen Geburtenkontrolle ein historisches Ereignis gesehen wird, „eine Art Unabhängigkeitserklärung der Frauen gegenüber den Männern“ und gegenüber den bisherigen Regeln der menschlichen Gemeinschaft.

Bezogen auf die künftige Rolle der USA oder anderer, vielleicht neuer Großmächte wie China betont der Historiker, daß er es als einen Irrtum ansieht, daß eine einzelne Macht die Weltpolitik bestimmen könne, auch wenn er die herausragende Rolle der USA anerkennt.

Schließlich ist für ihn der Zerfall Rußlands nicht nur eine Tragödie. Von den drei Brüchen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Sowjetunion, hält er letzteren für den mit den stärksten und langwierigsten Auswirkungen. „Das ganze Ausmaß dieser Katastrophe ist bislang noch gar nicht richtig erkannt worden“, stellt er dazu fest.

Was uns aus diesem Text entgegenblickt, ist noch wesentlich das Gesicht des 20. Jahrhunderts. Wie es sich unter den Bedingungen der kommenden Entwicklungen verändern wird, ist nur mit ein paar skizzenhaften Strichen angedeutet. Aber gegenüber den vielen Spekulationen, Visionen und auch Wunschträumen, die heute mit dem technischen Fortschritt, mit der Globalisierung und anderen Trends verknüpft werden, heißt es bei Hobsbawm mehr als nachdenklich: „Es gibt vieles in der Welt, das einfach nicht machbar ist.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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