Eine Rezension von Julius Waldschmidt


August Bebels Reise durch sieben Jahrhunderte
Orient-Geschichte

August Bebel: Die Mohammedanisch-Arabische Kulturperiode
Herausgegeben von Wolfgang Schwanitz.
Edition Ost, Berlin 1999, 236 S.

Ein Buch, im Gefängnis entstanden, 1884 zum Druck gegeben und 1889, ein Jahr vor Bismarcks Entlassung, in zweiter Auflage erschienen, liegt nach langem Vergessen wieder vor. Der Verfasser ist August Bebel und Die Mohammedanisch-Arabische Kulturperiode ist es getitelt. Der Herausgeber Wolfgang Schwanitz verdolmetscht das als „die Wechselbeziehung zwischen dem Vorderen Orient und Europa von 570 bis 1517, von der Geburt des Propheten Mohammed bis zu den Anfängen des Osmanischen Weltreiches“.

Auf 110 Druckseiten bietet Bebel seine Studienergebnisse in einer sehr verständlichen Diktion. Er hatte „die unverständliche Sprache unserer älteren deutschen Philosophen“ im Gedächtnis, denn „sie mußten, bevor noch Talleyrand seinen berühmt gewordenen Ausspruch getan, die Sprache benutzen, um ihre Gedanken zu verbergen“ (S. 144). Überdies teilte der Autor mit Marx mehr als nur die Erkenntnis, daß, wenn der Mensch von den Umständen gebildet werde, eben diese Umstände menschlich gebildet werden müssen.

Am Ende jener „Gründerjahre, die mit dem Zufluß von fünf Milliarden Gold-Franken, den französischen Kontributionen an die Sieger des Krieges von 1870/71, begonnen hatten, stellte man sich kaum der Frage, wem eigentlich die europäische Wissenschaft die Bewahrung und Deutung der Werke der griechisch-römischen Philosophie zu verdanken habe, wem die europäische Medizin Dank schulde für das Grundwissen über und die Behandlung von Krankheiten, die zum Teil bis jetzt noch nicht eliminiert sind? „Wir haben dem Orient seine Künste und Wissenschaften, seine Religionen und eine Unsumme technischer Fähigkeiten abgelernt“, bekannte der Neuruppiner Maler und Fontane-Freund Wilhelm Gentz im Vorwort zu seinem Erlebnisband Briefe aus Ägypten und Nubien, gedruckt 1853 in Berlin, 25 Jahre bevor sich der sozialdemokratische Abgeordnete Bebel im Berliner Gefängnis Plötzensee an sein Manuskript setzte.

Der ist, meint Herausgeber Schwanitz, „ein autodidaktisches Handwerkskind der bürgerlichen Aufklärung, er trägt sie weiter und geht über sie hinaus“ (S. 43). Doch er ist wohl etwas mehr als nur das. Es gelingt ihm, aus seriösen Quellen ein historisches Panorama zu entrollen - von der Vorgeschichte und Entstehung des Islam „als Hebel der arabischen Macht“ bis zur Entwicklung der arabischen Kultur in Spanien. Der Leser begleitet den Religionsgründer durch Mißerfolge und auf die Höhen, er folgt Kalifen und Feldherren auf dem großen Marsch vom Golf bis nach Gibraltar, dem Felsen des Tariq, dessen Reiter bis in die Südregionen des Frankenreiches vorstoßen können, doch geschlagen werden. An den arabischen Heerstraßen entstehen Burgen, Festungen, Städte, werden Bewässerungskanäle gebaut und das Land kultiviert, gewinnen Wissenschaft und Künste Freiraum, wird friedliche, nützliche Koexistenz von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Glaubensrichtungen alltägliche Praxis. Selbst der katholische Theologe Gerbert, 999 als französischer Erzbischof zum Papst (Silvester II.) gewählt, hatte „bei den Arabern in Spanien seine Studien gemacht“.

August Bebel verschweigt nicht die sozialen Kontraste, die bereits vor tausend Jahren in arabischen Ländern aufrissen, noch die heftigen Machtkämpfe, die in Bagdad, Damaskus oder Granada entbrannten. Er vergißt ebensowenig, was in Schatten und Schutz von Herrscherhöfen ins Kraut schießen konnte, etwa die Trunksucht und der Konsum von Narkotika wie Haschisch oder Opium, die Freudenhäuser am Tigris und am Nil, sogar in Mekka und Medina.

Konsequent geleitet der Verfasser den Leser durch sieben Jahrhunderte Orient-Geschichte. Sein politischer Beruf, der ihm mehr als 50 Monate Gefängnis brachte, hat ihm weder Zeit noch Mittel gelassen, Bagdad, Kairo oder Granada zu besuchen, vor den Pyramiden von Gizeh oder in den Ruinen von Karthago zu stehen. Daher wagte es der Herausgeber in seiner Einleitung, die zu Widerspruch wie zu konstruktiver Kritik herausfordert, den „Ursozialdemokraten“ Bebel mit dem bekennenden Christen Karl May alias Kara ben Nemsi zu vergleichen, also dem Buchhelden unserer Väter und Großväter, der da durch die Wüste, durchs wilde Kurdistan von Bagdad nach Stambul zog, um danach im Lande der Skipetaren und überhaupt in den Schluchten des Balkans zu abenteuern.

Dem Autor Bebel hingegen geht es mitnichten um „adventures“ fürs „entertainment“. Ihm stehen gewiß Leser vor Augen, die ihm Vertrauen schenken und ihn deshalb ins Parlament gewählt haben, vor allem jene, die ab dem 22. Oktober 1878 unter den Bedingungen des Gesetzes „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ um ihr Stück Brot arbeiten und kämpfen, um ein sicheres Dach für ihre Familien bangen. Haben sie nicht Anspruch auf mehr Wissen und die Fähigkeit, historische und aktuelle Geschehnisse zu beurteilen? Ist nicht eben der Kolonialerwerb zum Argument gegen den Strom der Auswanderer avanciert? War es „linker Orientalismus“, der Bebel zur Feder greifen ließ? Thomas Scheffler hat (in „asien, afrika, lateinamerika“ Nr. 25/1997) dargelegt, daß Bebel „vielfach innen- und außenpolitischen Gesichtspunkten sowie geistesgeschichtlichen Zeitströmungen, die mit dem Orient nur sehr mittelbar zu tun hatten“, gefolgt sei. Unübersehbar war in der Tat das aktive Unabhängigkeitsstreben jener Völker des Balkans, die sich gegen die Unterdrückung durch den osmanischen Sultan aufbäumten. Die russische Armee kam den Bulgaren zu Hilfe, der russisch-türkische Krieg von 1877/78 endete fast vor den Toren von Konstantinopel und bescherte dem Osmanischen Reich zunächst den Diktatfrieden von San Stefano.

Führende deutsche Linke warfen dem deutschen Reichskanzler vor, „an den Rockschößen Rußlands“ zu hängen. Wilhelm Liebknecht veröffentlichte ein Mahnwort „Zur orientalischen Frage oder soll Europa kosakisch werden?“. Darin findet sich der kühne Satz, daß „in der heidnischen Türkei die Christen tausendmal freier lebten als die Christen in dem christlichen Rußland“. Noch zu Lebzeiten sollte der verehrte Arbeiterführer erfahren, wie brutal das türkische Regime solches Urteil Lügen strafen würde, als nämlich 1894 die bestialische Verfolgung der Armenier in den Straßen um den Bosporus begann. Dieser mörderische Staatsterrorismus konnte kaum positive Argumente für den „linken Orientalismus“ liefern.

Ein gewichtiger innenpolitischer Gesichtspunkt für Bebel ergab sich aus der von Bismarck initiierten Gesetzgebung zur Kranken-, Invaliden- und Altersversicherung, mit der, wie in „Fragen an die deutsche Geschichte“ (S. 211) zu lesen, „die Arbeiter für den monarchistischen Obrigkeitsstaat gewonnen werden“ sollten. Hatte nicht Bismarck zum Ziel erklärt, „in der großen Masse der Besitzlosen die konservative Gesinnung zu erzeugen, welche das Gefühl der Pensionierung mit sich bringt“? Die sozialdemokratischen Führer jedenfalls nannten damals das Wort Sozialreform „ein Modewerkzeug der Sozialdemagogie“.

Bebels Orient-Buch ging in die Setzerei, als die Sozialdemokraten mit außenpolitischen Alternativen an die Öffentlichkeit traten. Als Militärallianzen sich hüben wie drüben formierten, schlug Bebel Bismarck vor, einen internationalen Friedenskongreß einzuberufen - „zur gegenseitigen Erhaltung des Friedens unter den Völkern auf Grund des bestehenden Status quo“. Ohne Erfolg. Bebels Buch konfrontiert heute, angesichts der Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts, den Leser mit der brisanten Frage, wie deutsche Politik den Veränderungen Rechnung trägt, die sich in der arabischen Welt und in den von historischen Erbfeindschaften zerrissenen Balkanländern vollzogen haben und vollziehen. Bebels Schrift könnte Orientierungshilfe sein.

Leider hat der Herausgeber über die Rezeption des Bebel-Buches im Gebiet der ehemaligen DDR erst spät aufmerksam gemacht, spät auch der Dank an die Berliner Wissenschaftlerin Doris Kilias, die Übersetzerin vieler Bücher des ägyptischen Nobelpreisträgers Nagib Machfus.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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