Eine Rezension von Monika Melchert


Eine literarische Entdeckung

Anna Seghers: Jans muß sterben
Erzählung.
Aufbau-Verlag, Berlin, 2000, 96 S.

Die junge Netty Reiling hatte gerade ihr Studium der Kunstgeschichte und Sinologie in Heidelberg mit einer Dissertation über „Jude und Judentum im Werke Rembrandts“ beendet und suchte nach ihrem spezifischen Weg in die Kunst, noch nicht ganz sicher, ob er über die Malerei oder die Literatur führen würde. Im Frühjahr 1925 schrieb sie dann die Erzählung Jans muß sterben. Schnell sollte sich das Erzählen als d i e große Begabung der Frau herausstellen, die dann als Anna Seghers eine weltbekannte Schriftstellerin wurde. Zum 100. Geburtstag der Autorin hat ihr Sohn Pierre Radvanyi in Paris unter alten Papieren der Mutter diese Erzählung ans Licht gezogen, und der Fund stellt sich als eine literarische Sensation heraus. Pierre Radvanyi war 1945 als erster der Familie aus dem mexikanischen Exil wieder nach Paris zurückgekehrt, wo die Familie Seghers-Radvanyi von 1933 bis 1940 vor den Nazis Zuflucht gefunden hatte. Nach dem Krieg teilte der Student seiner Mutter nach Berlin mit, aus der Pariser Zeit lägen hier noch Papiere von ihr, Schreibzeug, Notizzettel. Sie sah es eines Tages durch - so beschreibt es der Sohn in „Geschichte einer Geschichte“, seinen Anmerkungen zum Buch - und sagte nur: „Das bleibt bei dir.“ Erkannte sie selbst nicht mehr, daß darunter das eng in Sütterlinschrift geschriebene Manuskript von Jans muß sterben etwas ganz Kostbares ist? Wir wissen es nicht. Nun aber bekommen wir, fünfundsiebzig Jahre nach ihrer Entstehung, diese Erzählung in die Hand und haben als Leser das schönste Geburtstagsgeschenk von der Autorin selbst.

Erzählt wird die wundersame Geschichte des kleinen, sieben- bis achtjährigen Jungen Jans Jansen, der in einer Stadt am Fluß aufwächst und dessen Leben eines Tages durch eine schwere Krankheit gezeichnet wird. Es ist das Abenteuer einer Kindheit, das in den Tod mündet. Der Text ist stark geprägt von dem an Bildern und visuellen Motiven geschulten Blick der jungen Autorin. So unterscheidet die leuchtend rote Hose, die ihm seine Mutter genäht hat, Jans von den anderen Jungen, mit denen er spielt, und macht ihn auch in den Augen von Erzählerin und Lesern zu etwas Besonderem. Anna Seghers versetzt sich hier auf eine so intensive, ja suggestive Weise in die Psyche eines Kindes wie später vielleicht nie mehr. Sehr früh zeichnet sich in dieser Geschichte ab, daß Anna Seghers mit der Sprache wie mit gemalten Linien umgehen kann.

Dabei ist es nicht das Erstlingswerk der jungen Autorin. Bereits Ende 1924 hatte sie Die Toten auf der Insel Djal veröffentlicht, das sie im Untertitel „Eine Sage aus dem Holländischen, nacherzählt von Antje Seghers“ nannte. Damit war aus Netty Reiling die Schriftstellerin Antje/Anna Seghers geworden. Der charakteristische Tonfall, der die großen frühen Erzählungen der Seghers kennzeichnet - Aufstand der Fischer von St. Barbara und Grubetsch -, ist hier bereits angeschlagen: manchmal seltsam sachlich und kühl, dann wieder brennend heiß. „Niemand weiß, ob Jans Jansen an diesem Tag hinfiel, weil ihm schwindlig war, oder ...“, so beginnt die Erzählung, und in diesem bewußten In-der-Schwebe-Halten - niemand weiß es eben genau - klingt etwas auf, das Anna Seghers später immer wieder gelingt: das Hereinholen des Unbestimmten, ja Mythischen ins ganz Reale. Unter der Brücke über den Fluß, auf der Jans und die anderen Jungen immer spielten, „kletterten behend die kleinen Knaben herum, die im vorigen Sommer bei diesem Spiel ertrunken waren, ohne es deshalb aufgegeben zu haben“. Auch hier also sind die Toten anwesend bei den Unternehmungen der Lebenden, niemand verwundert es, weder die Jungen noch die Erzählerin, und noch in ihrem bedeutenden Epochenroman Die Toten bleiben jung rücken für Anna Seghers beide Sphären wie selbstverständlich zusammen. Nicht umsonst sind E. T. A. Hoffmann, Gogol und Kafka die von ihr bewunderten Lehrmeister des Erzählens. Das starke Interesse am Mythischen, das besonders in den Jahren des Exils ihr Schreiben aufleuchten lassen wird, denkt man nur an die „Sagen von Artemis“, die „Drei Bäume“ oder „Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok“, verbindet sich bereits hier mit dem präzisen, detaillierten Blick auf das Alltägliche. Und ein Satz wie aus den Toten von der Insel Djal, in dem es von dem seltsamen, über die Toten wachenden Pfarrer heißt, seine Seele „mußte ganz zerwühlt und durchlöchert sein von all den Beichten, die er schon angehört hatte“, könnte ebenso in dieser neuen Geschichte stehen. Das Charakteristische der Seghersschen Diktion prägt sich früh aus.

Jans muß sterben ist die Geschichte über ein Kind, das plötzlich lebensgefährlich erkrankt und einen endlosen Winter lang in der engen Arbeiterstube seiner Eltern liegen muß, ohne Licht und Freude, bis es nur mehr ein Schatten des einst lebhaften Jungen ist. Doch am aufregendsten ist zunächst das, was in den Erwachsenen vor sich geht: Wie die jungen Eltern Martin und Marie Jansen ihre ungestillte Sehnsucht auf das Kind projizieren und es doch nicht wagen, ihre Zärtlichkeit wirklich auszuleben, als sei das in ihren Kreisen unüblich; ihr Glück „hatte Flecke und Sprünge bekommen“ durch Jans' Krankheit. Die Eltern quälen sich, doch jeder trägt sein Leid einsam für sich, nicht fähig, sich gegenseitig Trost und Halt zu geben. Viel zu früh haben die Eltern das Kind aufgegeben, sich mit dem Schicksal abgefunden - das scheint ihnen die Erzählerin vorzuwerfen, wortlos. Am stärksten leidet der Vater, weil er am wenigsten in der Lage ist, Jans seine Liebe mitzuteilen. Übers Jahr, als niemand mehr damit rechnet und die Eltern ein neugeborenes Kind in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit gestellt haben, kehrt der Junge zu seinen Spielgefährten zurück, geht sogar wieder in die Schule - es scheint, als sei er noch einmal davongekommen. Doch am Ende der Erzählung wird auch Jans zu den toten Knaben gehören. Zuvor aber hatte er noch einmal alle seine Lebensfünkchen in sich sammeln und in einer einzigen großen Tat seine brennende Sehnsucht verwirklichen können, „einen scharfen, nie dagewesenen, weit über das Ziel hinausreichenden Wurf“ zu tun: Er klettert mit einem Aufbäumen letzter Kraft unter der Brücke hindurch, die anderen Knaben nehmen es staunend zu Kenntnis („Wahrhaftig, da ist er!“). Es ist sein Sieg, auch wenn er ihn schließlich mit Zusammenbruch und Tod bezahlen muß. Aber er hatte es geschafft, was einem Menschen vielleicht nur einmal im Leben gelingt und damit seinem noch so kleinen Dasein einen Glanz verleiht.

Manche Motive tauchen hier zum erstenmal auf, zum Beispiel ist es die Stadt am großen Fluß, in dem wir durchaus den Rhein vermuten dürfen, an dem Anna Seghers ihre Kindheit verbrachte, den sie liebte und der in ihrem Werk immer wieder das Symbol der Sehnsucht verkörpert, weil er hinaus führte ins Meer, ins Weite und Unbekannte. Später werden diese Motive vielfach variiert und entfalten sich in anderen Fällen erst ganz. Schon angelegt ist die soziale Dimension der Erzähltexte von Anna Seghers mit ihrer Fähigkeit, ins Leben einfacher Menschen hineinzuschauen, in ihre Stuben ebenso wie in ihre Gedanken, und durch das genau beobachtete Soziale die mythische Dimension hindurchscheinen zu lassen. In der literarischen Gestaltung von Jans' Ende sind auch Erlösungshoffnungen enthalten, wie sie die Studentin in der Philosophie des Chiliasmus bei ihrem künftigen Mann László Radványi kennengelernt hatte. Der kleine Junge findet zwar den Tod, der ihn jedoch zugleich von seinem Schattendasein erlöst. Das ist nicht die christliche Hoffnung auf ein Leben im Jenseits, sondern eine auf das Abstreifen der engen Grenzen eines farblosen Daseins. Der Topos der Sehnsucht nach Welt und prallem Leben bestimmt, wie nun erneut zu erkennen ist, das Frühwerk der Erzählerin in ganz spezifischer Weise. In mancher Hinsicht ist Jans muß sterben sogar sinnlicher als andere Texte von Anna Seghers, so in der Art, wie das Kind die schöne junge Frau wahrnimmt, die seine Mutter ist, mit ihrer weißen Haut und den weiblichen Formen. Diese Marie ist die erste in der langen Reihe der Marien-Figuren, wie sie dann in beinahe jedem Prosawerk in irgendeiner Gestalt vorkommen, zart, lebendig und sehr irdisch.

Jans' Vater geht Jahre später immer wieder an das Grab des kleinen Sohnes und findet sich dabei schließlich selber wieder im Bewußtsein, seinen vergangenen Schmerz, seine „alte Verzweiflung“ wiedergefunden zu haben. Auch er, wie wenig später die Figur der Anna in der Erzählung „Grubetsch“, sehnt sich nach „roten, glühenden, leuchtenden Unglücken“. Immer wieder werden sich später die Figuren der Anna Seghers nach einem solchen besonderen Glück oder Unglück verzehren, das sie herausreißen wird aus dem Einerlei eines stumpfen Alltags - so wie ihr kühner, verwegener Jason im „Argonautenschiff“. So mag es auch die junge Netty Reiling empfunden haben, als sie fort wollte aus der Provinz ihrer Heimatstadt und aufbrach ins Berlin der Weimarer Republik, damals eine Weltstadt der Kultur, wo sie tatsächlich zur großen Künstlerin heranreifen sollte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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