Eine Rezension von Waldtraut Lewin


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Verworrene Traurigkeit über das Schicksal des Menschen

Paul Salamon: Die Schule der Träume
Roman.
Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1999, 601 S.

ders.: Der Wahrsager
Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki.
Aufbau-Verlag, Berlin 1999, 525 S.

Wem Salamons Wahrsager in die Hände fällt, tut gut daran, es erst einmal wieder beiseite zu legen und sich ganz schnell Die Schule der Träume zu besorgen (beim gleichen Verlag jetzt als Taschenbuch, 1995 im Hardcover erschienen). Sonst geht es ihm möglicherweise wie mir: Er versteht nichts.

In der Tat ist Der Wahrsager ohne die Vorgeschichte des ersten Buches ein hartes Wasser. Ständige Rückblenden, Verweise, Zitate, Familienverstrickungen lassen das Werk zum Vexierspiel werden, ermüden und verwirren. Als ich zum drittenmal beiläufig darauf hingewiesen wurde, daß der eine Protagonist des Romans ja seine Großmutter mit bloßen Händen auf der „Lichtung der Offenbarung“ begraben hatte, wurde es mir zu bunt, und ich besorgte mir Die Schulen der Träume, und siehe da, auch bei mir trat die Offenbarung ein, und es ward Licht. Eine gewisse Arroganz (des Verlages oder des Autors?) dem Leser gegenüber kann ich nicht umhin anzumerken. So zu tun, als müsse jeder a priori wissen, was die Vorgeschichte ist, also selbstverständlich den ersten Roman als hochliterarische Pflichtlektüre intus haben - das ist ein bißchen, nun, sagen wir mal, unhöflich. Ein kleiner Hinweis auf den Zusammenhang der beiden Bücher könnte nichts schaden.

Ein Zusammenhang, der freilich nur in der Verknüpfung der Personnage besteht. Janos, der Dritte Sorel, begegnet uns im ersten Buch als Kind und Heranwachsender im heimatlichen Ungarn, als Entwurzelter (und als solcher seine Wurzeln immer wieder verzweifelt Suchender) im zweiten Band. Ist Die Schule der Träume eine große Familien-Saga, sinnstiftend und trotz aller Trauer ermutigend, so ist Der Wahrsager, das Road Movie der Emigration, voller Hoffnungslosigkeit und Vergeblichkeit.

Der Ur-Vater der Familie, Gründer der „Dynastie Sorel“, erlangt nach 12jähriger Dienstzeit unterm österreichischen Kaiser in seinem Karpatendorf die schönste Frau, wird als Zimmermann reich und angesehen, empfängt seine „Offenbarung“ und wird zum Wunderheiler und Seelentröster für seine ganze Umgebung. Der zweite Sorel, sein Sohn, geht mit den von ihm versteckten Juden zusammen ins KZ Buchenwald, überlebt die Schrecknisse und findet in Schweden seine große Liebe, die ihm später mit ihrem gemeinsamen Sohn ins nun sozialistische Ungarn folgt. Der zweite Sorel, Zimmermann und Gelehrter wie sein Vater, wird Lehrer für Literatur und führt das fort, was der Erste Sorel begründet hat - Mut und Menschenliebe gegen alle Widerstände zu bewahren. Als man ihn wegen seines nonkonformistischen Verhaltens vom Lehramt suspendiert, gründet er schließlich das, was dem Buch den Namen gab, die „Schule der Träume“, wo sich Menschen ohne Reglement und frei von Zwängen über die Dinge zwischen Himmel und Erde unterhalten und gegenseitig belehren, wo es um Wahrheit und Phantasie geht. Vom Regime als konspirative Gruppierung betrachtet, versucht man mit allen Mitteln, diese kleine „Akademie“ zu unterwandern und zu zerstören. Schließlich wird der Zweite Sorel von einem ehemaligen Geheimdienstoffizier aus Eifersucht ermordet. Der Dritte Sorel rächt den Tod seines Vaters und reist danach illegal zu seiner Großmutter in das Karpatendorf, das nun Teil der Sowjetunion ist, um in ihrer letzten Stunde bei ihr zu sein.

In Der Wahrsager finden wir den Zweiten Sorel, Janos, in der Emigration in Wien wieder - ein Abenteurer, ein schöner Hansdampf in allen Gassen, der sich durchaus die Gunst der Frauen für sein Fortkommen zu sichern weiß, einer, dessen Träume gestorben zu sein scheinen. In einem Hotelzimmer findet er ein paar vergessene Seiten eines Romanmanuskripts, die ihn zu dessen Verfasser führen, zu György Lazar, dem sogenannten „Feldwebel“, einem jüdischen Emigranten, und seiner Geliebten Morgenröte. Die beiden Männer verbindet eine merkwürdige Freundschaft. Sorel ist fest davon überzeugt, daß Lazar mit seiner Hilfe Karriere machen kann, und als eine große amerikanische Agentur mit Lazar verhandelt, verdirbt er alles durch seine Geradlinigkeit und sein freches Mundwerk.

Die Wege der beiden trennen sich. Lazar geht nach Israel, Sorel in die Staaten, letzterer beseelt von dem absurden Willen, gleichsam als Sühne Lazars Roman zu verfilmen. Nach quälend endlosem Hin und Her und dem Weg durch viele Betten hat er das Unmögliche geschafft, die Millionen für den Film sind zusammen. Er fährt nach Jerusalem, den inzwischen als Fensterputzer arbeitenden „Feldwebel“ besuchen - dessen akademische Laufbahn fiel Intrigen zum Opfer.

Ihr Wiedersehen bleibt in der Schwebe - eigentlich kann in der Welt des Kommerz und der Tristesse nichts gelingen, so wenig, wie es den Sorels letzten Endes gelang, eine „Dynastie“ zu gründen, denn der Vagabund Janos wird wohl kinderlos bleiben.

Bei aller Traurigkeit und allen Schrecken ist die Welt des ersten Romans bunt, phantasievoll, ungewöhnlich, stets überraschend. Die Sorels sind Überlebenskünstler und „Gutmenschen“ in einem, sie überraschen die Mächtigen der Welt immer aufs neue durch ihren Einfallsreichtum, ihre ungewöhnliche Sicht der Dinge und durch ihre unerschütterliche Furchtlosigkeit. Ein kleines Universum tut sich bei der Lektüre dieses Buches auf, dessen humaner Impetus nie flach gerät, dessen Traurigkeit nie ohne das Salz des Witzes ist und dessen Poesie verzaubert. Der Sorelsche Garten, die beiden klugen Pferde, die große Bibliothek und die wunderbare Landschaft sind der vielfarbige Hintergrund für starke Charaktere und große Gefühle. Selbst die sozialistische Diktatur vermag nicht, die unverwechselbare Welt dieser besonderen Menschen zu zerstören. Das alles hat Leichtigkeit, aber nie Leichtgewicht.

Der Wahrsager arbeitet mit ganz anderen Farben. Die ganze Trostlosigkeit des Fremden, des „Dahergelaufenen“, in einer gleichgültigen Umgebung, das ganze Elend der Armut in einer Gesellschaft, wo nur das Geld zählt, die Sehnsucht nach dem Ankommen, die Leere eines Daseins ohne Perspektive überfallen den Leser förmlich.

Salamon erfüllt keines der Erwartungsmuster, auf die wir denn doch immer wieder hoffen: Immer wenn man denkt, das Schicksal eines seiner Helden nimmt nun endlich eine Wendung zum Guten, gibt es wieder den Rückschlag, und weder Tüchtigkeit noch Intelligenz noch Witz tragen Früchte. Mit deprimierender Genauigkeit und trostlosem Zynismus beschreibt der Autor, wie hoffnungsvoll sich manchmal menschliche Beziehungen aufbauen, Freundlichkeit, Gastfreundschaft, Wärme entgegengebracht werden, bis es zum entscheidenden Punkt kommt: dann nämlich, wenn die armen Schweine von Auswanderern nach finanzieller Unterstützung fragen. Dann versteinern die eben noch so offenen Mienen, dann fällt die Jalousie, dann ist alles aus.

Der Kampf ums Überleben läßt diese beiden sympathischen und klugen Männer erscheinen wie zwei Käfer, die zum Rand eines Gefäßes hochklettern und kurz davor wieder herunterfallen. Letztlich ist alles vergebens. Die hunderttausend Dollar, die Lazar von einem reuigen Schweizer Bankier geschenkt werden, fordert dessen Witwe wieder ein, und eigentlich ist es dem „Feldwebel“ fast egal. So egal, was es ihm ist, daß sein Buch nun verfilmt wird - denn er weiß genauso wie Janos, daß ein kommerzieller Film kein guter Film werden wird.

Jung, gutaussehend, gescheit und gewieft ist der Dritte Sorel - und muß sich sagen lassen: „Du gehörst nirgendwo hin.“ Und Lazar? Auch im Land seiner Väter ist er der „Dahergelaufene“.

Die wehmütige Quintessenz zwischen Resignation und Hoffnung am Schluß: „Wir leben noch.“ Willkommen im Zeitalter der Aussiedler und Ausländer, der Exilanten und Asylanten, der Heimatlosen überall auf der Welt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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