Wiedergelesen von Eberhard Fromm


Sebastian Haffner: Preußen ohne Legende

(Hamburg 1979)

Als Sebastian Haffner am 2. Januar 1999 in Berlin starb, überschlugen sich die Zeitungen und Zeitschriften mit ihren Nachrufen, trug man doch einen der ihren, einen der großen Journalisten des 20. Jahrhunderts, zu Grabe. Dabei hatte Haffner bereits seit Mitte der siebziger Jahre den Rückzug aus dem journalistischen Tagesgeschäft angetreten und sich einem Metier gewidmet, das in Deutschland immer noch zu wenig verbreitet ist - der historischen Publizistik. Erfahrungen mit dieser Art zu schreiben hatte Raimund Pretzel, als der Haffner am 27. Dezember 1907 in Berlin geboren wurde, schon im englischen Exil gesammelt. Sein Buch Germany: Jekyll & Hyde erschien bereits 1940. Warum diese frühe „vorzügliche Analyse“ (Thomas Mann) des faschistischen Deutschlands erst 1996 in deutscher Sprache erschienen ist, bleibt mir bis heute unerklärlich. Haffner ist diesem Thema treu geblieben, wie seine Arbeiten Anmerkungen zu Hitler (1978) oder auch Von Bismarck zu Hitler (1987) belegen.

Zum 300. Preußen-Jahrestag, der im kommenden Jahr sicher mit vielen Aktivitäten begangen werden wird, kann es aber keine bessere Einstimmung geben als die 1979 erschienene Arbeit Preußen ohne Legende. Hier hat der „Deutsche mit britischem Paß“, wie sich Haffner selbst nannte, ein distanziertes und zugleich provokantes Preußenbild entworfen, das häufig mit der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung kollidiert, aber zugleich auf eine neue, unverkrampfte Art die Sicht auf Preußen und seine Geschichte eröffnet.

Schon im Vorwort klingen jene Positionen an, um die sich Haffners Darstellung dreht: „Preußen ist spät am europäischen Staatenhimmel auf- und untergegangen wie ein Meteor“, heißt es da; und wenn man dieses Bild ernst nimmt, dann sind es offensichtlich die hellen Seiten der Preußengeschichte, die Haffner betont wissen will.

Gegen eine weitverbreitete, vor allem politisch immer wieder benutzte Auffassung von Preußens verderblicher Mission in der deutschen und europäischen Geschichte stellt Haffner seine Sicht, daß Preußen gar keine solche Sendung gehabt habe. Der Aufstieg Preußens begann, als das alte deutsche Reich zerfiel; der Niedergang setzte ein, als sich Preußen eine deutsche Sendung, eine besondere Mission aufschwatzen ließ. „Preußen hat dem Deutschen Reich überhaupt nichts ,vererbt‘ oder ,eingeimpft‘. Es war mit der Reichsgründung von 1871 am Ziel und am Ende seiner Karriere angelangt“, heißt es unmißverständlich.

Die Themen, die im Buch in deutlich chronologischer Abfolge behandelt werden, reichen vom rauhen Vernunftstaat und der kleinen Großmacht bis zur Reichsgründung; eingefaßt werden sie von der Darstellung des langen Werdens und des langen Sterbens des Staates Preußen. Preußens klassische Epoche lag nach Haffner im 18. Jahrhundert, als es nicht nur der neueste europäische Staat war, sondern auch der modernste. „Das Preußen des 18. Jahrhunderts war fortschrittlich, kriegerisch und freigeistig gewesen, ein Staat der Aufklärung.“ Es war eine „wundervoll konstruierte Staatsmaschine“, aber es blieb eine Maschine, wurde kein lebendiger Organismus mit eigenen Selbstheilungskräften; wenn das Schwungrad dieser Maschine einmal versagen sollte, dann stand sie still. Immer wieder betont Haffner diese Seiten Preußens, die seine Größe und seine Schwäche ausmachten: „Preußen war blitzblank und rein, ein reiner Vernunftstaat ohne jeden historischen Heiligenschein, ganz Macht unter Mächten, ganz scharf kalkulierende Staatsraison, ein Produkt nicht des Mittelalters, sondern der Aufklärung.“ Friedrich der Große war für ihn keineswegs skrupelloser als andere Herrscher seiner Zeit; als Zyniker unterschied er sich jedoch von ihnen dadurch, daß er diese seine Skrupellosigkeit nicht zu bemänteln versuchte, sondern sie offen zur Schau trug.

Ausführlich wird die Rolle Preußens bei der deutschen Reichsgründung behandelt. Entgegen der verbreiteten Meinung, daß die Reichsgründung von 1871 den höchsten Triumph Preußens darstelle, betont Haffner, es sei vielmehr der Anfang vom Ende gewesen. „Preußen als Reichsgründer: Das war, wenn man es historisch betrachtet, eine beinahe so phantastische Vorstellung wie Luther als Papst.“ So bewegt die deutsche Geschichte nach 1871 auch gewesen war, für Preußen handelte es sich dabei nur noch um einen Abgesang. Am Beispiel von Berlin weist Haffner darauf hin, wie das Werden zur Reichshauptstadt das Bewußtsein von der Hauptstadt Preußens, die es ja auch noch war, schnell verschwinden ließ, während München oder Dresden, die Hauptstädte der Königreiche Bayern oder Sachsen, ihr Sonderbewußtsein durchaus bewahrten.

Auf eine historische Dimension ganz besonderer und oft übersehener Art macht Haffner mit seinem auf den ersten Blick verblüffenden Hinweis aufmerksam, daß das republikanische Preußen nach 1918 überraschend zum Musterland des republikanischen Deutschlands der Weimarer Zeit wurde. Das belegt indirekt seine These von der Modernität Preußens, auf die er mehrfach eingeht.

Das Buch hält sich wenig bei Belegen und historischem Material auf. Es lebt von klaren Feststellungen, kühnen Thesen, knappen Wertungen. Und es ist fesselnd geschrieben; man merkt die Handschrift des geübten Publizisten und seine Freude an bildhaften Darstellungen, so, wenn er z. B. die Zeit zwischen dem Westfälischen Frieden 1648 und der Französischen Revolution von 1789 mit den Worten charakterisiert: „Diese Epoche kann man das Pubertätsalter der europäischen Machtpolitik nennen, ein Alter der wilden Triebe und der tollen Streiche.“

Man muß nicht mit allem einverstanden sein, was Sebastian Haffner über Preußen und seine Geschichte schreibt. Aber man erhält neben gesichertem Wissen eine Fülle von Anregungen zum Nach- und Weiterdenken, zum einverständlichen Nicken und zum kopfschüttelnden Widerspruch - und das kann man leider nicht von vielen Büchern sagen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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