Wiedergelesen von Eberhard Fromm


Hermann Hesse: Demian

Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend.
(1919)

Die deutschsprachigen Literaturnobelpreisträger (7)

„Denn gerade das, was Sie bei mir suchen und von mir wollen, kann ich nicht geben. Ich bin kein Führer und will und darf keiner sein. Ich habe durch meine Schriften zuweilen jungen Lesern dazu gedient, bis dahin zu kommen, wo das Chaos beginnt, das heißt wo sie allein und ohne helfende Konventionen dem Rätsel des Lebens gegenüberstehen. Für die meisten ist schon das eine Gefahr, und die meisten kehren denn auch wieder um und suchen neue Anschlüsse und Bindungen. Die sehr wenigen, die es treibt, ins Chaos einzutreten und die Hölle unserer Zeit bewußt zu erleben, die tun es ohne ,Führer‘. Meine Bücher führen den Leser, wenn er willig ist, bis dahin, wo er hinter den Idealen und Moralen unserer Zeit das Chaos sieht. Wollte ich weiter ,führen‘, müßte ich lügen.“

Mit diesen Worten umschrieb Hermann Hesse in einem Brief vom Oktober 1928 sein Verständnis von der Aufgabe eines Schriftstellers, wie er sie für sich in Anspruch nahm. Das sollte man immer beachten, wenn man manche der überschwenglichen Urteile zu solchen Büchern Hesses liest wie dem Demian in seiner Wirkung auf die Jugend nach dem Ersten Weltkrieg, dem Glasperlenspiel in seiner Bedeutung für die verunsicherten, suchenden Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg oder auch der Erzählung Siddharta als Kultbuch der Hippies.

Dieses Nur-zu-etwas-Hinführen, diese vorsichtige Zurücknahme des Eigenen als Position oder gar als Vorbild oder Ideal, dieses Aussparen vordergründiger Zeitbezüge oder gar plakativer Forderungen der Zeit haben Hesse nicht selten den Vorwurf des Außenseiters und unpolitischen Dichters eingebracht. Doch man sollte sich nicht täuschen lassen; es liegt in der oben zitierten Auffassung von der Rolle des Schriftstellers begründet, daß Hesse seine persönlichen, meist sehr klaren und ganz und gar nicht unparteiischen Ansichten über die Zeit und die Verhältnisse in seinen Werken ausspart oder nur ganz knapp anklingen läßt. Man muß deshalb unbedingt den Briefwechsel Hesses lesen, will man seine Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit verstehen. In seinen Briefen - immerhin handelt es sich um eine Sammlung von ca. 35 000 - redet Hesse unverblümt, ja rücksichtslos über die Probleme und Widerwärtigkeiten seiner Zeit. Thomas Mann würdigte zum 70. Geburtstag des Dichters das Schaffen Hesses mit den Worten: „Für mich gehört dies im Heimatlich-Deutsch-Romantischen wurzelnde Lebenswerk bei all seiner manchmal kauzigen Einzelgängerei, seiner bald humoristisch-verdrießlichen, bald mystisch-sehnsüchtigen Abgewandheit von Zeit und Welt zu den höchsten und reinsten geistigen Versuchen und Bemühungen unserer Epoche. Unter der literarischen Generation, die mit mir angetreten, habe ich ihn, der nun das biblische Alter erreicht, früh als den mir Nächsten und Liebsten erwählt und sein Wachstum mit einer Sympathie begleitet, die aus Verschiedenheiten so gut ihre Nahrung zog wie aus Ähnlichkeiten.“

Hermann Hesse, geboren am 2. Juli 1877 in Calw in Württemberg, stammt aus einer religiös sehr aktiven Familie. Sein Vater, Johannes Hesse (1847-1916), ein Deutschbalte aus Estland, war als Missionar tätig, bevor er aus gesundheitlichen Gründen nach Calw kam. Die Mutter, Maria Gundert (1842-1902), wurde in Indien in einer Missionarsfamilie geboren, war in erster Ehe mit dem britischen Missionar Charles Isenberg verheiratet, mit dem sie in Indien wirksam war.

Aus dieser familiären Situation heraus war es nicht verwunderlich, daß auch für Hermann ein ähnlicher Lebensweg vorgedacht war. So kam er nach dem Besuch der Lateinschule in Göppingen und dem Ablegen eines Landesexamens 1891 als Seminarist nach Maulbronn. Im Konflikt mit sich selbst, seinen Entwicklungsproblemen und den Zwängen jener Anstalt flüchtete er aus Maulbronn, mußte deshalb die Einrichtung verlassen und wurde kurzzeitig in einer Nervenheilanstalt untergebracht. Nach einem Jahr in Cannstatt, wo er das Gymnasium besuchte, versuchte er sich für einige Monate als Lehrling bei einem Turmuhrenfabrikanten. Schließlich entschloß er sich im Herbst 1895 zu einer Lehre als Buchhändler in Tübingen, wo er denn auch bis 1899 durchhielt.

Die Wirren dieser frühen Jahre hat Hesse in der Erzählung Unterm Rad gestaltet. In diesem 1906 erschienenen Werk ist immer noch die scharfe Ablehnung jenes Erziehungs- und Bildungssystems spürbar, mit dem er derart in Konflikt geraten war. „Der Mensch, wie ihn die Natur erschafft, ist etwas Unberechenbares, Undurchsichtiges, Gefährliches. Er ist ein von unbekanntem Berge herbrechender Strom und ist ein Urwald ohne Weg und Ordnung“, heißt es dort. „Und wie ein Urwald gelichtet und gereinigt und gewaltsam eingeschränkt werden muß, so muß die Schule den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen und gewaltsam einschränken; ihre Aufgabe ist es, ihn nach obrigkeitlicherseits gebilligten Grundsätzen zu einem nützlichen Gliede der Gesellschaft zu machen und die Eigenschaften in ihm zu wecken, deren völlige Ausbildung alsdann die sorgfältige Zucht der Kaserne krönend beendigt.“

Hesse arbeitete seit 1899 in einer Baseler Buchhandlung. Und als sich erste literarische Erfolge einstellten, entschied er sich 1903, künftig als freier Schriftsteller zu leben.

In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg entstanden eine Reihe wichtiger Werke, so die Romane Peter Camendzind, Gertrud und Roßhalde sowie Sammlungen von Erzählungen wie Diesseits, Nachbarn, Umwege, Aus Indien und nicht zuletzt eine Vielzahl Gedichte.

Seit 1904 lebte er mit Maria Bernoulli, die er im gleichen Jahr heiratete, in Gaienhofen, einem kleinen Ort am Bodensee. Hier wurden auch seine drei Söhne Bruno, Heiner und Martin geboren. Von hier aus unternahm er Vortragsreisen durch Deutschland, die Schweiz und Österreich sowie 1911 eine ausgedehnte Indienreise. Zwischen 1907 und 1912 gab er gemeinsam mit anderen, so mit Ludwig Thoma, die Halbmonatsschrift „März“ heraus. 1912 verließ er Gaienhofen und übersiedelte nach Bern.

Während des Ersten Weltkrieges arbeitete er in Bern in der Deutschen Gefangenenfürsorge. Mit seiner Stellungnahme „O Freunde, nicht diese Töne“, die am 3. 11. 1914 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschien, bestimmte er sein Verhältnis zu diesem Krieg. „Krieg wird so lange sein, als die Mehrzahl der Menschen noch nicht in jenem Goetheschen Reich des Geistes mitleben kann“, hieß es in dem Artikel. „Krieg wird noch lange sein, er wird vielleicht immer sein. Dennoch ist die Überwindung des Krieges nach wie vor unser edelstes Ziel und die letzte Konsequenz abendländisch-sittlicher Gesinnung.“ In Romain Rolland, mit dem er 1915 in Bern zusammentraf, fand er einen der wenigen Weggenossen in dieser Zeit.

Die Kriegsjahre waren aber auch durch persönliche Schicksalsschläge gekennzeichnet. 1916 starb sein Vater, und es kam zum Ausbruch einer Nervenkrankheit bei seiner Frau, die immer wieder klinisch betreut werden mußte. Hesse selbst geriet in eine Lebenskrise und ließ sich von namhaften Psychoanalytikern therapieren.

Nach Kriegsende begann eine produktive Zeit für den Dichter. 1919 nannte er später eines seiner ertragreichsten Jahre. Es entstanden neben dem Roman Demian die Arbeiten Klingsors letzter Sommer und Siddhartha, Essays und Aufsatzsammlungen wie Zarathustras Wiederkehr, Untergang Europas, Blick ins Chaos (Aufsätze über Dostojewski) und Sinclairs Notizbuch (Aufsätze aus den Jahren 1917-1920). Gemeinsam mit Richard Woltereck gab er von 1919 bis 1923 die Monatsschrift „Vicos Voco“ heraus und wurde Mitarbeiter am „Simplizissimus“.

Seit 1919 wohnte er in Montagnola bei Lugano im Tessin. 1923 erwarb er die Schweizer Staatsbürgerschaft. Im gleichen Jahr ließ er sich von seiner Frau Maria scheiden, heiratete 1924 Ruth Wenger, von der er sich jedoch 1927 wieder trennte. 1931 schloß er die Ehe mit Ninon Dolbin, mit der er bereits seit 1927 zusammenlebte. Es entstanden so berühmte Romane wie Der Steppenwolf und Narziß und Goldmund.

Hesse verfolgte die politische Entwicklung in Deutschland mit großer Skepsis und mit Unbehagen. In einem Brief an Heinrich Wiegand vom 29. Februar 1932 schrieb er: „Ich kann die Zukunft Deutschlands nicht von der Zukunft der Welt trennen,... sondern sehe nach wie vor ein Deutschland, das seine Revolution nicht vollzogen, seine neue Staatsform nicht aufgenommen und angenommen hat und das zu jedem Abenteuer zu haben ist, die Vernunft aber wie den Teufel fürchtet. Für die Zukunft schiene mir Deutschland die Aufgabe zu haben, zwischen Sowjet und Westen neue Formen der Entkapitalisierung zu finden und dadurch selber wieder zu Ansehen und Einfluß zu kommen.“

Nach 1933 gehörte Hesse zwar nicht zu den in Deutschland verbotenen Autoren, doch war die gegenseitige Distanz deutlich spürbar. Allerdings sahen auch manche Hitlergegner in Hesse keinen Verbündeten. Neben der Edition einer Gesamtausgabe seiner etwa 600 Gedichte im Jahre 1942 arbeitete Hesse in diesen Jahren an dem Roman Das Glasperlenspiel, der 1943 in Zürich und 1946 erstmals in Deutschland erschien. Wie er sich später erinnerte, ging es ihm bei dieser Arbeit um zweierlei: „einen geistigen Raum aufzubauen, in dem ich atmen und leben könnte, aller Vergiftung der Welt zum trotz, eine Zuflucht und Burg, und zweitens den Widerstand des Geistes gegen die barbarischen Mächte zum Ausdruck zu bringen und womöglich meine Freunde in Deutschland im Widerstand und Ausharren zu stärken.“

In seinen letzten Lebensjahrzehnten erfuhr Hesse viele Ehrungen, so den Goethepreis der Stadt Frankfurt, den Orden Pour le mérite, den Ehrendoktor der Berner Universität und den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Als er 1946 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, schrieb er in seiner Dankadresse an das Komitee, da er aus gesundheitlichen Gründen an der Ehrung nicht teilnehmen konnte: „Ich fühle mich Ihnen allen vor allem durch den Gedanken verbunden, welcher der Stiftung Nobels zugrunde liegt, den Gedanken von der Über-Nationalität und Internationalität des Geistes und seiner Verpflichtung, nicht dem Kriege und der Zerstörung, sondern dem Frieden und der Versöhnung zu dienen. Darin, daß der mir verliehene Preis zugleich eine Anerkennung der deutschen Sprache und des deutschen Beitrages an die Kultur bedeutet, sehe ich eine Gebärde der Versöhnlichkeit und des guten Willens, die geistige Zusammenarbeit aller Völker wieder anzubahnen.“

Am 9. August 1962 starb Hermann Hesse in Montagnola. Beigesetzt wurde auf dem Friedhof von San Abbondio. In seinen Briefen hat Hesse sein Leben mehrfach als das eines Don Quichote charakterisiert. Vielleicht aber trifft auf ihn am meisten zu, was er in einem seiner frühen Gedichte schrieb:

„Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.“

*        *        *

Als 1919 der Roman Demian, verfaßt von Emil Sinclair, bei Fischer in Berlin erschien, rätselten die Kritiker und Literaturinteressierten, wer denn dieser Autor sei, dessen Buch einen solchen Erfolg hatte. Schon der Vorabdruck in der Literaturzeitschrift „Die Neue Rundschau“ hatte für Aufsehen gesorgt. Und dann wurde ihm auch noch der Fontanepreis verliehen. Thomas Mann, der sich bei seinem Verleger Samuel Fischer nach dem Verfasser erkundigte, erhielt als Antwort, daß das Manuskript von Hermann Hesse gekommen sei und der Autor ein junger, kranker, in der Schweiz lebender Dichter sei. Erst im folgenden Jahr machte ein Literaturkritiker auf die stilistischen Gemeinsamkeiten des Demian mit Erzählungen Hermann Hesses aufmerksam. Daraufhin bekannte sich Hesse, der unter dem Namen Emil Sinclair bereits im November 1917 die groteske Satire Wenn der Krieg noch zwei Jahre dauert in der „Neuen Zürcher Zeitung“ veröffentlicht hatte, zu seinem Werk und gab auch den Fontanepreis, der für literarische Anfänger gedacht war, zurück. Denn eine Anfängerarbeit war dieser in den Kriegsjahren geschriebene Roman nun ja nicht.

Zum siebzigsten Geburtstag des Dichters erinnerte sich Thomas Mann: „Unvergeßlich ist die elektrisierende Wirkung, welche gleich nach dem ersten Weltkrieg der ,Demian‘ jenes mysteriösen Sinclair hervorrief, eine Dichtung, die mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf und eine ganze Jugend, die wähnte, aus ihrer Mitte sei ihr ein Künder ihres tiefsten Lebens erstanden (während es ein schon Zweiundvierzigjähriger war, der ihr gab, was sie brauchte), zu dankbarem Entzücken hinriß.“

Liest man das Buch heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, fehlt einem natürlich dieser „Nerv der Zeit“. Es ist heute keine Nachkriegszeit, in der Menschen und Familien, Werte und Ideale, Betriebe und Institutionen, Vergangenheit und Zukunft wild durcheinder gewirbelt werden und in der ein vierjähriger Weltkrieg tiefe Spuren im Bewußtsein der Menschen hinterlassen hat. Daher liest man den Demian heute auch anders als damals: Man findet die eigenen Jugenderfahrungen in ihrer allgemeinmenschlichen Dimension wieder. Und man entdeckt den tiefen Symbolismus vieler Gestalten und Aussagen. Will man jedoch den Demian wirklich in seinem historischen Kontext verstehen, dann sollte man ihn gemeinsam mit dem Essay Zarathustras Wiederkehr lesen. Diese Flugschrift ließ Hesse 1919 in Bern ebenfalls anonym erscheinen; und mit dem Untertitel „Ein Wort an die deutsche Jugend“ machte er die Adressaten klar, auf die ja auch der Demian zielte.

Emil Sinclair, der Held des Buches, erzählt von seiner Jugend, läßt den Leser miterleben, welche Ängste und Nöte, Freuden und Erfolge ein Mensch auf dem Weg zum Erwachsenwerden durchlebt. Der Ausbruch aus dem behüteten bürgerlichen Zuhause erfolgt schrittweise, anfangs sogar ungewollt. Im Kontakt mit Franz Kromer, der aus dem so anziehenden Straßenmilieu kommt, wird Sinclair zum Lügner und Dieb. Und er leidet unter dieser Abhängigkeit, aus der ihn dann sein neuer Freund Max Demian auf unbekannte Weise befreit. Dieser Demian ist eine geradezu unwirkliche Gestalt, geheimnisvoll in seinem Leben, übermenschlich in seinen Ansichten. Er lehrt Sinclair, die Welt und die Menschen mit anderen Augen zu sehen. Das beginnt mit der Geschichte von Kain und Abel, in der Kain plötzlich als der wirkliche Mensch erscheint. „Die meisten Sachen, die man uns lehrt, sind gewiß ganz wahr und richtig“, stellt Sinclair nun fest, „aber man kann sie alle auch anders ansehen, als die Lehrer es tun, und meistens haben sie dann einen viel besseren Sinn.“

Unter dem Einfluß Demians beginnt Sinclair, seine behütete Kindheit abzustreifen und sich mit der plötzlich erfahrenen „Einsamkeit und tödlichen Kälte des Weltraums“ auseinanderzusetzen. Als er seine Heimatstadt verläßt, um das Gymnasium zu besuchen, kommt es zu einem Ausbruchsversuch, der gründlich mißlingt: Er wird zum Kneipengänger und zum Mittelpunkt einer Gruppe jener jungen Männer, die sich als überflüssig und unnütz begreifen und damit nicht anders fertig werden können. „Ach, das weiß ich heute: nichts auf der Welt ist dem Menschen mehr zuwider, als den Weg zu gehen, der ihn zu sich selber führt“, muß Sinclair erkennen, als er aus diesem Kreis ausbricht. Und wieder ist es - von ferne und im Geist - der Einfluß Demians, der ihn herausführt.

„Der Vogel kämpft sich aus dem Ei“, lautet eines der Kapitel des Buches, in dem sich die Wandlung Sinclairs immer deutlicher vollzieht. Es ist eine Wandlung hin zu einem Menschen, der sich selbst sucht und zu sich selbst kommt. Im direkten Kontakt mit Demian und dessen Mutter Eva wird er zu einem „Gezeichneten“, einem aus jener Schar Einzelner, die sich als eine geistige Elite verstehen, die mit dem Massenmenschen nichts gemein hat. „Ich war ein Wurf der Natur, ein Wurf ins Ungewisse, vielleicht zu Neuem, vielleicht zu Nichts, und diesen Wurf aus der Urtiefe auswirken zu lassen, seinen Willen in mir zu fühlen und ihn ganz zu meinem zu machen, das allein war mein Beruf“, so versteht sich Sinclair, darin sieht er den Sinn seines Lebens.

Im Buch sind verschiedene Einflüsse deutlich spürbar. Zu Nietzsche bekennt sich Sinclair direkt, die Ansichten eines Jung und Bachofen werden in dem Symbolismus, in der großen Rolle der Träume, in der Gestalt der (Ur-)Mutter Eva lebendig. Man kann den Max Demian durchaus als das Unbewußte des Emil Sinclair deuten. Wenn es darum geht, die Triebe des Menschen - und gerade auch des jungen Menschen, der sein Triebleben erst entdeckt - nicht zu verteufeln, wenn Abraxas als Gottgestalt zitiert wird, der das Göttliche und Teuflische im Menschen als eine Einheit versteht, das Gute nicht vom Bösen künstlich trennt - dann sind das klare Zeichen der intensiven Auseinandersetzung Hesses mit Ideen der Psychoanalyse und der Philosophie Nietzsches, aber auch der Beschäftigung mit dem Werk Dostojewskis.

Natürlich bleibt die Diagnose der konkreten Zeit, in der die Handlung spielt - das Buch endet mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges - nicht unberücksichtigt, erscheint jedoch in einer abgehobenen, wiederum symbolhaften Gestalt. Da wird der Geist Europas beschworen, von der Signatur der Zeit geredet, die darin bestehe, daß die Welt von heute zum Sterben bereit sei und daß der Geist verödet sei. Das sind Worte, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit von 1919 sicher von vielen verstanden und bejaht werden konnten. Aber wohin die Entwicklung gehen sollte, welche andere Möglichkeiten es denn gäbe - das bleibt im Ungewissen:

„Wir, die mit dem Zeichen, mochten mit Recht der Welt für seltsam, ja für verrückt und gefährlich gelten. Wir waren Erwachte, oder Erwachende, und unser Streben ging auf ein immer vollkommeneres Wachsein, während das Streben und Glücksuchen der anderen darauf ging, ihre Meinungen, ihre Ideale und Pflichten, ihr Leben und Glück immer enger an das der Herde zu binden. Auch dort war Streben, auch dort war Kraft und Größe. Aber während, nach unserer Auffassung, wir Gezeichneten den Willen der Natur zum Neuen, zum Vereinzelten und Zukünftigen darstellten, lebten die andern in einem Willen des Beharrens. Für sie war die Menschheit - welche sie liebten wie wir - etwas Fertiges, das erhalten und geschützt werden mußte. Für uns war die Menschheit eine ferne Zukunft, nach welcher wir alle unterwegs waren, deren Bild niemand kannte, deren Gesetze nirgend geschrieben standen.“

Hesse wandte sich mit dem Demian an die deutsche Nachkriegsjugend mit ihrer bitteren Kriegserfahrung und ihrer Suche nach neuen Werten und Idealen in einer wirren Zeit. Aber er bleibt auch hier seiner Linie treu, daß er kein Führer sei, sondern daß er nur hinführe zu einem Punkt, wo die eigentliche eigene Auseinandersetzung mit der Zeit, der Welt und vor allem mit sich selbst erst beginnt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 12/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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