Eine Rezension von Waldtraut Lewin


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Erinnerungen aus finsterer Zeit

Solomon Wolkow (Hrsg.):
Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch
Eingeleitet von Michael Koball.
Aus dem Russischen von Heddy Pross-Weerth.
Propyläen Verlag, Berlin 2000, 440 S.

Als 1979 in den USA von einem jungen Emigranten aus Leningrad, dem Musikwissenschaftler Solomon Wolkow, das Buch Zeugenaussage - Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch, herausgegeben und aufgezeichnet von Solomon Wolkow erschien, gab es in der musikalischen Welt einen Aufruhr. Auf einmal waren Leute mit Russischkenntnissen gefragt, Leute, die gleichzeitig Zugang zum Westen hatten. Von ihnen ließ man sich mit Details über dies „Enthüllungsbuch“ versorgen. Irgendwann schmuggelte man dann auch die deutsche Übersetzung in die DDR ein. Die Authentizität der Memoiren stand für uns Leute aus der Musikszene keinen Moment in Frage, zumal die Lebenshaltung des Komponisten, wie sie sich in diesem Buch darstellt, absolut konform geht mit dem, was er, mehr oder weniger verschlüsselt, in seiner Musik - vor allem aber in den großen „Textsinfonien“ wie der 13.und der 14., die ich selbst ins Deutsche übersetzt habe - zum Ausdruck bringt. Der Sohn des Dirigenten Kurt Sanderling, Thomas, mit dem ich die Werke erarbeitete, kam aus dem sowjetischen Exil. Die Familie Sanderling hatte in Leningrad gewohnt und Schostakowitsch persönlich nahegestanden.

Mit gnadenlosem Zynismus und beißendem, trockenen Humor rechnet der Komponist mit der Epoche der stalinistischen Repression ab, sein Zorn trifft Funktionäre und Apparatschiks genauso wie katzbuckelnde Kollegen, westliche Journalisten und Apologeten der Sowjetunion aus dem Lager der Intellektuellen, und er entwirft ein beklemmendes, ein mörderisches Bild von Stalin und dessen Eingriffen in die Belange der Kunst.

Nachdem der KGB während der Drucklegung vergeblich bemüht gewesen war, sich des Manuskripts zu bemächtigen, setzten sofort nach Erscheinen des Buches die Proteste aus der Sowjetunion ein. Natürlich hatte man die Familie des 1975 verstorbenen Komponisten zu Kommentaren veranlaßt, in denen sie Wolkow als einen Betrüger diskreditierten und die Memoiren erlogen nannten, und bereits am 7. November 1979 gab ein hohes Tier des sowjetischen Urheberrechtsbüros, Wassili Sitnikow, der Agentur Reuters gegenüber zu Protokoll, das Buch sei „eine Fälschung vom Anfang bis zum Ende“. Diese Meinung war der Westen gutgläubig zu übernehmen bereit. Niemand wußte, daß Sitnikow auch Leiter der Abteilung „Desinformation“ beim KGB war ...

Ein britischer Musikwissenschaftler, der in das gleiche Horn stieß, ruinierte den Ruf des Buches völlig. Wolkow wurde vorgeworfen, sich mit einer sensationellen Fälschung seine Karriere sichern zu wollen.

1981 emigrierte Schostakowitschs Sohn Maxim in den Westen. Im Lauf der Zeit begann er, mehr und mehr von seiner ursprünglichen Aussage abzurücken. Er setzte sich für eine Rehabilitierung Wolkows und eine erneute Ausgabe des Buches ein. Es würde zu weit führen, hier den langwierigen und komplizierten Expertenstreit um die „Memoiren“ auszubreiten, die neue historisch-politische Sicht auf den großen russischen Komponisten, mit der eine stilistische Analyse seines vielfach verschlüsselten und über Zeichen sprechenden Werkes einherging (Dinge, die für die ausübenden Musiker schon immer klar gewesen waren, im Gegensatz zu den Musikologen); es fand sich neues Brief-Material, das die Echtheit der Erinnerungen bestätigte und die enge Nähe zwischen Wolkow und Schostakowitsch. Heute gilt das Buch allgemein als authentisch; einzig Schostakowitschs dritte Ehefrau beharrt noch auf ihrer Ablehnung Wolkows und seiner Arbeit, aus welchen Gründen auch immer.

„Psychokrimi, Lebensbeichte und musikalisches Geschichtsbuch der Sowjetunion“ nennt Michael Koball das Werk. Und Solomon Wolkow selbst sagt in seiner Einführung: „Ein Mensch ohne Gedächtnis ist ein lebender Leichnam. Unendlich viele lebende Leichname sind mir begegnet, die sich nur in offiziell genehmer Form an offiziell genehmigte Ereignisse erinnern ...“

Schostakowitsch hat als Präsident des Komponistenverbandes hölzerne, in gußeisernem Parteijargon abgefaßte Reden gehalten und Artikel veröffentlicht, von denen zumindest die Eingeweihten wußten, daß er sie niemals selbst verfaßte. Er bekam sie zum Absegnen, wenn sie fertig waren, und soll einmal gesagt haben, er würde das Zeug auch unterschreiben, wenn sie es ihm falsch herum hinhielten. Der Stil seiner Lebenserinnerungen hingegen ist wie der seiner erhaltenen, zum Teil höchst skurrilen Briefe: lakonisch, knapp, präzis, voll bösen Witzes und treffsicherer Groteske.

Beim Wiederlesen nach mehr als zwanzig Jahren ergeht es einem seltsam: Damals war es vor allem ein „Enthüllungsbuch“. Die überlebensgroße Gestalt des Tyrannen Stalin lag wie der Schatten eines Ungeheuers über allem, was in der Sowjetunion passierte. Seine Mordlust, sein Neid, sein Größenwahn und seine Unberechenbarkeit bestimmten die Tage und Nächte der Menschen, vor allem der Künstler, die von ihm abhängig waren, sein Wort bewirkte höchste Ehrung oder tiefsten Fall, oftmals den Tod. Die Angst vor ihm paralysierte alle, machte sie zu Speichelleckern und Heuchlern, trieb sie dazu, Hosianna oder kreuzigt ihn zu schreien, ganz wie der Diktator es verlangte, und bis zur Selbstaufgabe zu lügen. Scharf geht Schostakowitsch mit all diesen sinisteren Typen im Schlepptau der Macht ins Gericht, läßt klar werden, daß auch ein Stalin nicht Stalin sein kann ohne die Gefolgschaft der allzu Bereitwilligen. Die makabren Szenen zwischen dem Autokraten und seinen Kreaturen einerseits und zwischen dem Autor und den Inhabern der Macht andererseits will und kann ich nicht nacherzählen, sie machen die unglaubliche Farbigkeit und die groteske Faszination des Buchs aus.

Kein gutes Haar läßt der Verbitterte an westlichen Journalisten, die Prominente in der Sowjetunion zu „systemkritischen“ Äußerungen motivieren wollen, ohne sich darum zu scheren, was mit diesen Menschen passiert, wenn dergleichen im Westen veröffentlicht wird, und er überhäuft die „Humanisten“ der freien Welt mit Schmähungen, die sich nach Besuchen in der SU, geblendet durch die „heile Welt“, die ihnen vorgegaukelt wurde, zu sowjetfreundlichen Äußerungen hinreißen ließen - heißen sie nun Romain Rolland, Jean-Paul Sartre oder George Bernhard Shaw.

Heute bringt die Lektüre vor allem das tragische Miterleben eines Leidensweges. Schostakowitsch, einer der ganz großen Komponisten des 20. Jahrhunderts - zerrieben zwischen den Mühlsteinen eines menschenverachtenden Systems. Anders als seine Landsleute und Zeigenossen Prokofjew und Strawinsky war er nicht in der Lage, sich von seinen Wurzeln loszulösen, seinem Volk, seiner Heimat den Rücken zu kehren. Er blieb und litt. Nach einem zwar von ideologischen Rückschlägen nicht ganz verschonten, alles in allem aber geradlinigen Aufstieg als Komponist (so machte er sich auch über Filmmusiken einen Namen) kam der vernichtende Schlag: Am 28. Januar 1936 veröffentlichte die „Prawda“ den ohne Autorennamen edierten Artikel „Chaos statt Musik“, in dem gnadenlos mit Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth von Msenzk“ abgerechnet wurde. Ohne Autorennamen, das bedeutete: Das war die Meinung der Partei. Das war die Meinung Stalins. „Der Artikel ...“, schreibt der Komponist, „veränderte ein für allemal meine Existenz.“ Schostakowitsch war zum „Volksfeind“ geworden. Von nun an war sein Leben und Schaffen ein einziger mühevoller Kampf gegen Diskriminierung und Isolierung.

Der Kriegsbeginn war, so verrückt es klingen mag, für die traumatisierte, von Ängsten geschüttelte Bevölkerung im Reich des Tyrannen Stalin so etwas wie eine Befreiung. „Die Menschen brauchten sich nicht mehr vor Tränen zu fürchten. Man konnte offen weinen, offen die Toten beklagen.“ Die großen Sinfonien des Komponisten, vor allem die „Leningrader“, legen Zeugnis von dieser Seelenlage ab.

Schostakowitsch wird auch in der Nachkriegsära gleichermaßen bewundert und gescholten. Wo man ihm zujubelt, beruht es meist auf einem Mißverständnis, die wahren Werte seiner Musik werden verkannt. Besonders bedrückt ihn die Zustimmung des Westens, die seine Situation im Lande erschwert. Bei Reisen zum Beispiel nach Amerika fühlt er sich mißverstanden, ist abgestoßen vom Presserummel, repräsentiert hölzern den Musik-Funktionär des Verbandes, der ihn entsandt hat, liest vorgefertigte Reden ab, verschließt sich. Nur der engste Kreis der Freunde und Bekannten kennt sein wahres Gesicht. In seiner Musik jedoch ist alles vorhanden, was den Menschen Schostakowitsch ausmacht, wenn man sie recht zu hören versteht. Da ist die abgrundtiefe Trauer, die Bitterkeit, die Grimasse. Die Maske, hinter der er sich verkriecht wie ein Clown. Da ist Schmerz und Mut und bei aller Bizarrheit letztlich ein ungebrochener Glaube an das Leben, an das Gute im Menschen - und an den Humor, den Humor, dem er in seiner 14. Sinfonie einen ganzen Satz nach einem Gedicht von Jewtuschenko widmet. Mit einer Hommage an das Dasein schlechthin klingt auch seine 13. Sinfonie, nach Texten von Michelangelo, aus.

Die Kraft des unbestechlichen Blicks auf die Vorgänge um ihn herum ist ihm bis zum Schluß geblieben. Ehrungen ließen ihn kalt. Er sieht seine seelisch verkümmerte, durch Repressalien kleingemachte Umgebung in diesem Buch mit dem unerbittlichen Anspruch des Moralisten. Kaum einer kann vor diesem Anspruch bestehen. Eine trockene, beiläufig hingeworfene Bemerkung, ein bitterer Witz - schon ist der nächste Zeitgenosse in einer Hölle, die der von Dante sehr gleicht: ewige Verdammnis.

Ein erschütternder Satz auf einer der letzten Seiten dieser Memoiren: „Mich freut kein neuer Tag meines Lebens mehr.“

Lesen wir Schostakowitschs Lebenserinnerungen, lassen wir uns erschüttern und sehen wir fassungslos auf die Ungeheuerlichkeiten einer zynischen Tyrannei, genießen wir die pointierten Sottisen und eiskalt-böse erzählten Anekdoten über Heuchler und Verräter, geben wir uns dem Sog dieses einzigartigen Zeitdokuments hin - aber vor allem, hören wir Schostakowitschs Musik. Sie gehört zum Besten und Aufregendsten, was uns das vergangene Jahrhundert beschert hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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