Eine Rezension von Henry Jonas


Gegen die Entwertung von Lebensleistungen

Niels Sönnichsen: Mein Leben
Für die Charité gegen Aids zwischen Ost und West.
Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2000, 240 S.

Seit dem 3. 10. 1990 ist nun schon eine geraume Zeit vergangen, aber das Bild von der untergegangenen DDR wird von der offiziellen Propaganda immer noch nur schwarz gemalt. Ganz undifferenziert wird sie als Unrechtsstaat charakterisiert, der nichts Produktives bewirkt und geleistet hat, und wer „systemnah“ war (was immer das heißt), wird in die Schamecke gedrängt. Das vermehrte Erscheinen von Autobiographien ehemaliger DDR-Bürger ist wohl eine Art Aufbegehren gegen diese generelle Entwertung von Lebensleistungen, die vorwiegend in den vier Jahrzehnten vor der Vereinigung erbracht wurden: Wer sich selbst achtet, kann einen solch großen Zeitraum nicht einfach aus seinem Leben streichen, und er sieht dazu auch keinen Anlaß.

Prof. Dr. Nils Sönnichsens Buch Mein Leben ist ganz sicher aus solch einem Impuls heraus entstanden, denn der Arzt, Forscher und Pädagoge gehört zu den tief Gekränkten, denen nach der Wende die Fortsetzung ihrer Tätigkeit ohne jeden nachvollziehbaren moralischen oder juristischen Grund verweigert wurde. Der Berliner Senat wollte den geachteten Dermatologen, der 23 Jahre lang unumstritten und international erfolgreich die Hautklinik der Charité geleitet hatte, entgegen der Empfehlung des Wissenschaftsrates durch einen Arzt aus den alten Bundesländern ersetzen, das war politisches Kalkül. So mußte Sönnichsen weichen und sich auf die Nordsee-Insel Borkum zurückziehen, wo die Chefarztstelle in einer Reha-Klinik vakant war - zwei Jahre vor dem Renteneintritt und fern der Familie, die an Berlin gebunden war. Länger als fünf Jahre war das wohl nicht durchzuhalten. 1998 kehrte Sönnichsen nach Berlin zurück und eröffnete eine Privatpraxis auf dem Kurfürstendamm.

Diese Entwicklung schildert der Autor nobel und im Bemühen, die Verletzungen herunterzuspielen. Aber es ging ja nicht nur um die Aufgabe der Klinik, die auf dem Gebiet der Dermatologie weltweit führend war. Es ging auch um die Aufgabe von Forschung (Sönnichsen hat zum Beispiel den Ausbreitungsweg von Hautkrebsmetastasen erkundet, 650 wissenschaftliche Arbeiten vorgelegt, 10 Fachbücher verfaßt), um die Aufgabe von Ausbildung (nämlich künftiger Hautärzte an der Humboldt-Universität sowie die Betreuung von Dissertationen und Habilitationen), um die Aufgabe von Reputation. Eine Reputation, die Sönnichsen vor allem als frühzeitiger Aids-Bekämpfer gewann. Wenn es nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation kein zweites Land gab, in dem die Aids-Bedrohung so erfolgreich gemeistert wurde wie in der DDR, so ist das vor allem das Verdienst von Sönnichsen, der als Vorsitzender einer entsprechenden Regierungskommission rechtzeitig ein engmaschiges und funktionierendes Netz von Beratungsstellen aufbaute, Ärzte schulen, die Bevölkerung durch die Massenmedien informieren und auf freiwilliger Basis 2,5Millionen Menschen auf Aids testen ließ. Auf Grund dessen lagen 1990 Welten zwischen beiden deutschen Staaten: In einer beliebigen Straße einer westdeutschen Großstadt lebten mehr AIDS-infizierte als in der DDR zusammengenommen, und in einem einzigen Westberliner Krankenhaus sind 20mal so viel Aids-Patienten gestorben wie in der gesamten DDR. Sicher, in der DDR gab es keine Drogensucht und damit keine Beschaffungsprostitution. Das wird zu den günstigen Ergebnissen beigetragen haben, vor allem aber wohl darauf, daß zur rechten Zeit eine richtige Anti-Aids-Strategie verfolgt wurde.

Es ist richtig und notwendig, daß der Autor seine Verdienste jetzt ins rechte Licht setzt, seine Erfolge herausstellt. Wenn Sätze wie „Im Rückblick bin ich sehr stolz, daß ich das und das erreichen konnte“ oder „Und darauf bin ich nicht wenig stolz“ immer wieder vorkommen, ist das nur die verständliche Reaktion auf die Infragestellung eines Lebenswerkes, das in der DDR mit höchsten Auszeichnungen geehrt wurde. Weniger angenehm ist, daß Erfolge nur aneinandergereiht werden, Probleme, Konflikte, Niederlagen, die Schilderung des kurvenreiches Weges zum Erfolg aber weitgehend ausgespart bleiben. Höchstens zu einem Satz wie: „Hier beschritt ich Neuland, und ich will ohne Einschränkung sagen, daß dies anfangs für mich nicht ganz einfach war“ kann sich der Autor durchringen. Sein Berufsweg wird zwar ausführlich umrissen (Assistenzarzt in Schwerin, Landarzt, Arzt an der Charité, Ordinarius und Chefarzt in Jena, Chefarzt an der Charité, die er auch insgesamt drei Jahre geleitet hat), aber in die Dermatologie bekommt man doch weit weniger Einblick als erhofft. Auch fällt auf, daß Arbeits- und Lebenspartner nur namentlich erwähnt werden, sie gewinnen keine Plastizität. Und Faktoren, die die Lebensqualität mitbestimmen wie die Kunst und Literatur, Sport und Erholung, Haus und Familie werden nur am Ende und ganz summarisch abgehandelt. Es geht insgesamt mehr um einen Bericht im Überblick, es gibt wenig Vertiefendes, nur vereinzelt Anekdotisches. Dadurch ergibt sich eine gewisse Flachheit. Dieser Eindruck fußt auch auf der sachlichen, trockenen Schreibweise des Wissenschaftlers, die mitunter auch ein wenig steif und umständlich ist.

Sönnichsen beschreibt sein Verhältnis zur DDR total distanziert, erwähnt aber am Rande, daß er Mitglied der SED war. Wann, in welcher Situation, aus welchem Motiv er eingetreten ist, erfährt man nicht. Schade, denn das ist mißdeutbar, da es ja die unterschiedlichsten Gründe für eine Mitgliedschaft gab.

Die Probleme ärztlichen Lebens in der DDR (die ja auch Abwanderungen bewirkt haben) werden sehr präzis geschildert: das dem Devisenmangel geschuldete Defizit an technischen Ausrüstungen und Westmedikamenten, die Beschränkung von Reisen ins westliche Ausland. Daß alle Kranken unterschiedslos und gänzlich kostenlos behandelt wurden und daß die Ärzte über gesicherte Gehälter verfügten, wird nicht erwähnt. Auch nicht, daß Ärzte heute gegen sinkende Honorare und Budgetbegrenzungen sogar streiken müssen. Wenn ein Hautarzt im Quartal nur 35 DM pro Patient vergütet erhält und Medikamente lediglich für 38 DM verschreiben darf (weil, was darüber ist, von seinem Honorar abgezogen wird), läßt sich eine selbständige Praxis wohl kaum betreiben.

Am Kurfürstendamm freilich scheint es viele gut zahlende Privatpatienten zu geben, denn Sönnichsen befindet am Schluß versöhnlich, das Leben sei jetzt unvergleichlich reicher, schöner und leichter geworden. Er erfreut sich der glatten Straßen, der renovierten Häuser, des gewaltigen Handelsangebotes, der unbeschränkten Reisemöglichkeiten und vergißt, daß einen großen Teil der Menschen ganz andere Probleme plagen. Man denke nur an die hohe Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern, die oft Kriminalität, Alkoholismus, Drogensucht und Depressionen nach sich zieht. Und Sönnichsen? „So gesehen gibt es fast blühende Landschaften, wie sie einmal vorausgesagt worden sind.“ Offenbar war er lange nicht in seinem heimatlichen geliebten Mecklenburg. Wenigstens Andreas Dresens Film „Die Polizistin“, der ein realistisches Bild vom heutigen Lütten-Klein mit seinen Fixern, Dieben, Säufern und Krawallmachern vermittelt, sollte er gelegentlich sehen ...

Der Verlag hat das Buch sehr rasch hergestellt und auf den Markt gebracht. Das ist verdienstvoll, aber die Geschwindigkeit hat auch ihren Preis. Es gibt Unsauberkeiten im Druck (Seiten 130-136), ein Lektor hätte einige Wiederholungen streichen und ein Korrektor hätte die vielen Druck-, Rechtschreibe- und Satzzeichenfehler eliminieren können.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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