Eine Rezension von Gisela Reller


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„Wenn ich zurückschaue, so habe ich in meinem
Leben mehr getanzt als geweint“

Helga Slowak-Ruske: Rote Fahnen und Davidstern
Erinnerungen.
Edition Ost, Berlin 1999, 192 S.

Bei den Russen tanzte Helga Slowak-Ruske den Krakowiak, bei den Jugoslawen den Kolo, bei den Israelis die Hora. Und diese drei Länder bestimmen dann auch ihre drei wichtigsten Lebensabschnitte. In ihrem Vorwort schreibt sie: „Ich war ein Kind, ein Mädchen, dessen Eltern keine Widerstandskämpfer waren, das bei den Jungmädeln mitmarschierte, bis es anfing zu denken, das von den Russen befreit wurde und mit Begeisterung einen neuen Anfang suchte und fand. Im Mai 1945 ist bei mir eine Saat gelegt worden, die Jahre später aufgegangen ist.“

Am 15. Mai 1945 wurde von der sowjetischen Besatzungsmacht die erste Tageszeitung in Deutschland, die „Tägliche Rundschau“, gegründet - als „Frontzeitung für die deutsche Bevölkerung“, später nannte sie sich im Untertitel „Organ der sowjetischen Militäradministration“. Helga Slowak-Ruske, die davor als Volontärin im Textarchiv des Scherl-Verlages gearbeitet hat, bewirbt sich und wird als erste deutsche Redakteurin eingestellt - bar jeder journalistischen Erfahrung, aber sie will unbedingt Journalistin werden. Und sie wird es. Die vier Jahre bei der „Täglichen Rundschau“, die von Russen geleitet wird, sind der Teil des Buches, der ihre Erinnerungen erscheinenswert macht. Zwar sind auch ihre Kriegsaufzeichnungen interessant, aber wer in Berlin hat nicht ganz Ähnliches wie sie erlebt? Über die sowjetische „Tägliche Rundschau“ dagegen existieren - soweit bekannt - kaum schriftliche Erinnerungen von deutschen Redakteuren. Die Autorin läßt uns teilhaben an der Arbeit und auch an der Atmosphäre dieser ungewöhnlichen Redaktion. Wir lernen Kapitän Bloch kennen, Major Dymschütz, Major Scheinis, Kapitän Bernstein, Major Bergelsen, Kapitän Silbermann, Major Weisspapier - alle sind russisch-jüdische Intellektuelle in leitenden Positionen. Die Entscheidungsgewalt aber - die deutschen Mitarbeiter bemerken es bald - liegt in den Händen eines nichtjüdischen Russen, des Obersten Kirsanow. Nach anfänglicher Aufbruchstimmung macht sich ab 1948 Angst breit, als die antisemitische Säuberungswelle, die „Shdanowtschina“, die jüdischen Intellektuellen der Sowjetarmee, vor allem die Kulturoffiziere in Deutschland, erfaßt, auch die im Berliner Haus der „Täglichen Rundschau“. Ein jüdischer Mitarbeiter nach dem anderen wird abberufen, verhaftet, deportiert ... Als Helga Slowak-Ruske befürchten muß, als Spionin verhaftet zu werden - sie hatte zur Erinnerung an ihren Chef, Kapitän Bloch, ein Foto an sich genommen -, flüchtet sie 1949 in den Westen.

Bedauerlich, daß die Autorin nahezu nichts über ihre deutschen Kollegen schreibt. Welche politische Vergangenheit, welche berufliche Qualifikation prädestinierte sie für eine Mitarbeit an der „Täglichen Rundschau“? Durch ihre Flucht in den Westen bleiben uns leider die Jahre von 1949 bis 1955 verschlossen, als das Organ der russischen Militäradministration eingestellt wurde. Kein System kann ich, die „Tägliche Rundschau“ betreffend, beim Personenregister entdecken. Ingeburg Kretschmar, die im Text ausschließlich als „wunderschöne Redakteurin“ auftaucht, ist aufgenommen, aber Meyer-Berken, „ein lieber, gütiger und etwas müder alter Mann“, der der Autorin „rührend und einprägsam“ beibringt, was man unter redigieren versteht, bleibt unerwähnt. Findet sich Kapitän Bloch, der Leiter der Leserbriefabteilung, im Register, so sucht man Major Bergelsen, den Leiter der Kulturabteilung, vergeblich.

Von Westberlin aus reist Helga Slowak-Ruske privat und ganz allein auf sich gestellt nach Jugoslawien, weil sie das Land Titos, der mit der Sowjetunion und mit dem Stalinismus gebrochen hat, kennenlernen möchte. Manches ist ausgesprochen interessant, zum Beispiel ihr Interview mit dem letzten lebenden Attentäter von 1914, dessen Schüsse den Ersten Weltkrieg auslösten, vieles gerät ihr allerdings gar zu weitschweifig, zum Beispiel die ausführliche Geschichte der weißen Lipizzaner. Außerordentlich aufschlußreich ist ihre Schilderung, wie schon in den fünfziger Jahren Serben, Slowenen, Kroaten, Mazedonier, Montenegriner, Herzegowiner, Albaner einander hassen und verachten. „Nur Tito ist die Klammer, die diese verschiedenen Nationalitäten zusammenhält.“

Der letzte Abschnitt der Erinnerungen ist ihrer Arbeit für Israel gewidmet. Inhaltlich interessant - macht er doch fast vier Jahrzehnte ihres Lebens aus - berichtet sie hier, bilanziert Erfolge und Mißerfolge in den verschiedenen Organisationen, erzählerisch aber scheint ihr der Atem ausgegangen zu sein. Gegen die anderen sehr lesbaren Kapitel wirkt dieser Abschnitt blaß - trotz zweier Attentate auf sie und einer versteckten Bombe in einer von ihr organisierten Ausstellung. Beeindruckend indes, daß sich ihr Arbeits- und Lebenskreis schließt, wenn sie schreibt, daß ihre intensive Beschäftigung mit Israel und dem Judentum auf ihre frühen Erlebnisse mit den russich-jüdischen Intellektuellen in der „Täglichen Rundschau“ und auf die Verhaftungswelle unter ihnen zurückzuführen ist.

Helga Slowak-Ruskes Erinnerungen sind weniger auf ihr privates Geschick gerichtet - beide Ehemänner sterben, sie hat eine Tochter - als vielmehr auf die Darstellung selbsterlebter historischer Begebenheiten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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