Eine Rezension von Monika Melchert


„Es geht ihnen allen so verdammt dreckig ...“

Anna Seghers:
Hier im Volk der kalten Herzen
Briefwechsel 1947.
Herausgegeben von Christel Berger.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2000, 288 S.

1947 war das Jahr der Rückkehr von Anna Seghers aus einem fünfzehn Jahre währenden Exil. Doch es dauerte lange, ehe aus dieser Rückkehr eine Heimkehr wurde. Sie war Anfang Januar 1947, aus Mexiko kommend, in New York an Bord eines Schiffes gegangen, das sie nach Europa brachte. Eine direkte Einreise in Deutschland war auch damals noch nicht möglich. Wochenlang sitzt sie nun in Stockholm, auf ihre Visa für die Heimat wartend. Die Heimreise, wie sich schnell herausstellen sollte, war beinahe genauso schwierig wie einst die Abfahrt aus Marseille ins rettende Übersee. Schließlich, nach einem Besuch in Paris, wo ihre beiden Kinder studieren, trifft sie endlich am 22. April 1947 in Berlin ein. Allein. Der Freundin Erika Friedländer in Stockholm beschreibt sie diese Reiseschwierigkeiten im Nachkriegseuropa wie in einem Roman von Kafka - „im Augenblick des Todes bekommt er die zeitweise Aufenthaltserlaubnis“. An sie schickt sie auch die für ihren Mann bestimmten Briefe nach Mexiko - immer noch der einfachere Weg.

In ihrer in Mexiko entstandenen Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen hatte Anna Seghers die Heimkehr gedanklich vorbereitet. Sie war auf viel Zerstörung, auf Elend und Grauen gefaßt. Aber was sie dann vorfindet, übertrifft diese Erwartungen bei weitem. Die innere und die äußere Zerstörung Berlins sind katastrophal. Wie in einer solchen Zeit heimisch werden? Überall trifft man zwischen den Besatzungszonen auf Schranken und Barrieren (ihre Geburtsstadt Mainz hat sie noch nicht einmal wiedergesehen). Die schlimmsten aber sind jene in den Köpfen der Menschen. „Es geht ihnen allen so verdammt dreckig“, schreibt sie, „sie sind so fürchterlich schuld daran, sie kapieren das absolut nicht, die paar Anständigen sind so verdammt anständig, daß alles andere einem lau und verschmiert vorkommen wird.“ Der Schock sitzt tief. Schwer macht ihr zu schaffen, daß sie gute Freunde aus der Vergangenheit nicht mehr wiederfindet, die meisten sind tot, und andere, auf die sie wartet, sind noch nicht zurück. Sie sehnt sich nach der Rückkehr ihres Mannes László Radványi aus Mexiko (der jedoch, wie sie noch nicht ahnt, erst Jahre später kommen wird), aber auch nach der von Brecht und anderen Schriftstellerfreunden, mit denen ihr der geistige Austausch zur Lebensnotwendigkeit wird. Die Unsicherheit und innere Einsamkeit dieser Monate, wie man sie aus den Briefen der Anna Seghers herauslesen kann, ist erschütternd. Am meisten entsetzt sie das Fehlen jeglicher Schuldeinsicht bei den deutschen Landsleuten: „Die Menschen verstehen jeden Tag weniger, daß sie irgendwie, daß sie auch nur im geringsten Schuld haben sollen an dem Hunger, den sie tatsächlich haben.“ Die tiefe Müdigkeit, die sich ihrer schon in den ersten Wochen in Deutschland bemächtigt und über die sie immer wieder klagt, ist ein Resultat dieser seelischen Überforderung. So persönlich, so ganz ohne offizielle Maske wie in diesen erstmals veröffentlichten Dokumenten hat man Anna Seghers bisher noch nicht wahrnehmen können.

Christel Berger hat die Korrespondenz der weltberühmten Schriftstellerin in diesen ersten schwierigen Monaten herausgegeben, aus etwa 200 vorhandenen Briefen 138 ausgewählt und mit erhellenden Anmerkungen versehen. Damit differenziert und vervollständigt sich unser Bild der Autorin. Es ist aufregend zu lesen, wie sich Anna Seghers' Blick, aus den Weiten Mexikos und des Ozeans kommend, allmählich und sehr mühevoll auf die heimischen Verhältnisse einstellt. Sie stürzt sich schnell in die kulturpolitischen Tagesaktivitäten, hält Reden, hat öffentliche Auftritte im Kulturbund, im Schriftstellerverband - im Kontext dieser Briefe erscheint es auch wie ein Stück Flucht aus der Einsamkeit, um unter Leute zu kommen, um mit der Ernüchterung der deutschen Nachkriegswirklichkeit fertig zu werden. Daß sie erwartet und gebraucht wird, bezeugen die zahlreichen Bitten um Kontakt zu ihr, Einladungen zu Vorträgen, Gesprächen mit Jugendgruppen, in Volkshochschulen usw. Das wird ihr geholfen haben. Dennoch, in den Briefen in alle Welt zeigt sich immer wieder das, was sie darunter, im Innersten, bewegt. Zu den schönsten, dichtesten Briefen gehören die an F.C. Weiskopf nach New York, an die Freundin Lenelore Wolf nach Frankfurt a.M., an Gaya, die treue Kinderfrau ihrer beiden Kinder, oder insbesondere an ihren Cousin Sally David Cramer in London. Mit ihm, dem Gefährten ihrer unbeschwerten Kindheit und Jugend am Rhein, kann sie verrückte Dinge und alte, fast vergessene Kindersprüche von damals austauschen und endlich einmal wieder lachen, was sie sich so sehr wünscht. Dennoch, lustig ist es nicht, was sie zu berichten hat. Denn es „schaudert“ ihn, wie er zugibt, wenn er ihre Briefe aus Berlin liest, und er, der sehr an ihr hängt, fragt sich, wie sie denn lebt, ob sie „die Preußen nicht gefressen haben“. Ihm vertraut Anna Seghers auch die heftige Sehnsucht nach Mexiko an. Sie weiß, daß sie sich mit der Rückkehr verändert hat. „Ich habe aber das Gefühl, ich wäre für Dich wie eine Kreuzung von Aschenputtel und Dornröschen, ganz eingewachsen in lauter Dornen.“ Die Dornröschenmetapher - das scheint mir ganz symptomatisch - gebraucht die Schriftstellerin wiederholt, um das Absonderliche ihrer Verfassung zu beschreiben, so, als sei sie aus der Zeit gefallen: „ich hätte alles vergessen und alle hätten mich vergessen“. Und trotzdem ist da auch Hoffnung, immer dann, wenn sie mit jungen Leuten zusammenkommt. Ihr Engagement für die Jugend wird sie nie reuen. Von diesem Jahr 1947 aus geht Anna Seghers' Weg zu einer wichtigen Größe der deutschen Gegenwartsliteratur weiter. Die jetzt zugänglichen Briefe sind ein einzigartiges Dokument der Zeitgeschichte ebenso wie ihres privaten Lebens.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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