Eine Rezension von Jan Eik


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Alles andere als ein harmloser Mitläufer

Kurt Pätzold/Manfred Weißbecker: Rudolf Heß
Der Mann an Hitlers Seite.
Militzke Verlag, Leipzig 1999, 544 S.

In Jalta auf der Krim erkundigte sich vor vielen Jahren ein sowjetischer Tourist, der erfahren hatte, daß ich aus Berlin kam, bei mir nach dem Schicksal eines gewissen Gess. Als ich begriff, daß es ihm um Rudolf Heß ging, konnte ich ihn beruhigen: Hitlers Stellvertreter saß damals noch als einziger verbliebener und beinahe vergessener Kriegsverbrecher in Spandau. Als er sich dort, inzwischen 93jährig, am 17. August 1987 an einem Lampenkabel zu erhängen versuchte und danach starb, verschwand bald darauf das ganze Gefängnis, die allerletzte Bastion alliierter Zusammenarbeit in Berlin, spurlos.

Auch Heß selber wäre wohl längst vergessen, gäbe es da nicht eine Schar unbelehrbarer, zumeist jugendlicher Anhänger, die in ihm den letzten nationalsozialistischen Märtyrer sehen - und die nimmermüden Historiker. In der DDR wäre es vermessen gewesen, nach einer Heß-Biographie zu fragen, wo es ja nicht einmal ausführliche Arbeiten über Hitler (oder gar über Stalin!) gab. Die vorliegende Biographie von Pätzold und Weißbecker enthält neben der in den Anmerkungen aufgeführten Literatur keinen speziellen Nachweis, die Anzahl der Publikationen über Hitlers höchsten Parteisoldaten ist dennoch umfangreich. Das Interesse an ihm blieb in der Sowjetunion, in England und in den USA wach, wie die Beiträge der drei Gastautoren, Ted Harrison (GB), Peter A. Schupljak (Belorußland) und Robert G. Waite (USA), in dem Band beweisen. Der amerikanische Gefängniskommandant Eugene K. Bird beispielsweise verfaßte ein umstrittenes Buch über den in seinen Augen „einsamsten Mann der Welt“; andere entwickelten in Büchern und Filmen Ausbruchsszenarien oder vermuteten eine falsche Identität des Mannes mit der kaum zu verwechselnden Physiognomie. Immer wieder waren Autoren, vor allem aber Journalisten auf Sensationen aus, auf die Klärung des vermeintlichen Geheimnisses um den Piloten, der ohne Hitlers Wissen am 10. Mai 1941 mit einer Me 110 nach Schottland flog, um einen Sonderfrieden zwischen Großbritannien und Hitlerdeutschland zu erreichen, „der den geplanten Überfall auf die UdSSR begünstigen sollte“, wie Meyers Neues Lexikon von 1973 verrät. „Seine Mission scheiterte an den Widersprüchen zwischen dem deutschen und dem britischen Imperialismus und an der antifaschistischen Haltung der britischen Werktätigen.“

Eine so simple Version für das (historisch folgenlose) Ereignis, mit dem Heß' Name nun einmal untrennbar verknüpft ist, bieten die auf dem Gebiet der Nationalsozialismus-Forschung erfahrenen Historiker Pätzold und Weißbecker in ihrem Buch nicht an. Wie andere vor ihnen neigen sie eher zu der Annahme, Heß' überraschender Flug - wie manches andere in seinem späteren Verhalten - sei rational nicht in letzter Konsequenz erklärbar.

Aber auch hier nennen sie nüchterne Fakten und ergehen sich nicht in Spekulationen. Gerade darin liegt wohl der besondere Wert ihrer fundierten und an den neuesten Quellen orientierten Darstellung: Sie tun alles, um diesen Mann mit den offensichtlich höchst durchschnittlichen Geistesgaben, der bis in die höchsten Funktionen aufstieg (ein wie wir heute wissen in der deutschen Geschichte keineswegs einmaliger Vorgang), zu entmystifizieren, ohne seine Rolle in den Anfangsjahren der NSDAP und der Naziherrschaft über Deutschland herunterzuspielen. Denn der unbelehrbare Heß, wohl der einzige Naziverbrecher, der seine lebenslange Strafe wirklich absaß, war alles andere als ein harmloser Mitläufer, den die Nürnberger Richter unverdient so streng bestraft hätten. Für solche und andere Legenden und Deutungen bleibt in Pätzold/Weißbeckers betont sachlich gehaltener Biographie auch dank der beigefügten Dokumente kein Raum.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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