Eine Rezension von Friedrich Schimmel


cover

„So eine Hölle haben wir noch nie erlebt“

Vladka Meed: Deckname Vladka
Eine Widerstandskämpferin im Warschauer Ghetto.
Mit einem Vorwort von Elie Wiesel.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Susanne E. Krämer.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1999, 339 S.

Dieser spannende, atemberaubende und niederschmetternde Bericht versetzt den Leser in die Hölle. Die auf Erden schon zu finden ist. Vladka Wachalska, die unter dem Namen Feigle Peltel in Warschau geboren wurde, ist gerade siebzehn Jahre alt, als deutsche Truppen in Polen eindringen. Das junge Mädchen erlebt den Tod des Vaters im Ghetto, die Deportation von Mutter, Schwester und Bruder. Unbegrenztes Leid. Aber auch Wut. Und der Versuch, diesen Demütigungen Widerstand entgegenzusetzen. Noch bevor es zum Widerstand kam, gaben viele auf. Drei Kilo Brot, das war die Falle, in die der Hunger viele trieb. Neben den Schlangen der Wartenden standen bereits die Eisenbahnwaggons, die die Juden mit ihrem Brot in die Konzentrationslager brachten. Einige, denen die Flucht aus Treblinka gelang, kehrten mit den Geschichten über ihre grauenhaften Erlebnisse in das Ghetto zurück. Vladka Meed weigerte sich zunächst zu glauben, ihre Lieben könnten tot sein: „Denk besser nicht darüber nach, sagte ich mir.“ Und das war der Impuls, etwas zu tun, wenigstens etwas zu versuchen, damit diese Hölle im Ghetto, Verfolgung, Panik, Angst und Zerstörung am laufenden Band, aufhören möge. Ständig in der Gefahr, von den Deutschen aufgegriffen zu werden, entwickelten die Bewohner des Ghettos zwar List und Phantasie, um den Peinigern auszuweichen, doch zumeist holte sie der blanke Terror rasch wieder ein. Mancher, der den Deportationen entrinnt, atmete fürs erste kurz auf und rief: „So eine Hölle haben wir noch nie erlebt!“ Razzien und Selektionen, Tag und Nacht, urplötzlich die Geräusche der Peiniger. In ihrer Mitte der Teufel persönlich, der Fabrikaufseher Murmann, „der eine Peitsche in der einen und ein Päckchen Karten in der anderen Hand hielt - unser Schlüssel zum Leben oder zum Tod“.

Die Mutigsten unter den Ghettobewohnern beschlossen im September 1942: „Laßt uns Widerstand leisten!“ Zuvor war es am schlimmsten zugegangen: in einer Woche 60 000 Juden deportiert, weitere 4 000 starben, wo sie gerade waren; sie verhungerten oder wurden erschossen. Vertreter verschiedener politischer Untergrundorganisationen sagen der deutschen Wehrmacht den Kampf an. Ausführlich schildert Vladka Meed diesen schweren und verlustreichen Weg. Nicht allein großer Mut, wie bei ihr, überwandt die Angst, es kamen auch glückliche Umstände hinzu. Hier das „arische“ Gesicht der Heldin. Sie überwandt die Mauer des Ghettos, beschaffte Sprengstoff und Waffen, traf sich auf abenteuerlichen Wegen mit Freunden. „Draußen“, außerhalb des Ghettos, fühlte sie sich „frei“. Doch Ruhelosigkeit überfiel sie, denn der Kontrast zum Ghetto war erschreckend: „Es war hier, als ob in den letzten beiden Jahren nichts geschehen wäre. Straßenbahnen, Autos, Fahrräder flitzten an mir vorüber, die Geschäfte waren offen, die Kinder auf dem Weg zur Schule; Frauen trugen frische Brote und andere Lebensmittel.“

Mit ihren „arischen“ Gesichtszügen konnte sich Vladka unter „Ariern“ bewegen. Auch hier gab es Unterstützung, und die polnische Polizei kniff ein Auge zu, hielt aber die hohle Hand hin, um abzukassieren. Unter weiten Teilen der polnischen Bevölkerung jedoch vermißte sie Anteilnahme, Solidarität und Mitleid.

Es war im Ghetto bekannt, daß der polnische Untergrund Waffen besaß. Ein Teil der Waffen wurde gekauft. Dann, im Januar 1942, kam es zu ersten größeren Widerstandsaktionen. Revolver, Handgranaten und selbstgebastelte Bomben (Molotowcocktails) setzten Zeichen. Dann tobte der Kampf zwischen Flammen und Tod. Teilweise „gewannen die jüdischen Kämpfer mit ihrer wilden Verteidigung die Oberhand“. Der Kommandant der deutschen Truppen verkündete am 16. Mai 1943, daß der Aufstand im Warschauer Ghetto niedergeschlagen sei, doch die Beteiligte Vladka Meed weiß es anders: „Das stimmt nicht.“ Noch wochenlang danach setzten einzelne Ghettobewohner den verzweifelten Kampf fort. Das Ende des Aufstandes setzt die Autorin erst fest, „als der letzte jüdische Aufständische im Ghetto gestorben ist“.

Vladka Meed und ihre Freunde stehen danach vor einer neuen Überlebenssituation: „Wir, die kleine Schar Überlebender im ,arischen Wohnbezirk‘, fühlten uns allein zurückgelassen. Das Ghetto war die Seele unseres ganzen Kampfes gewesen, das Motiv all unserer Bemühungen. Wir hatten nur für das Ghetto gelebt. Nur aus dem einen brennenden Verlangen hatten wir unsere Kraft und unsere Einigkeit bezogen - Rache zu nehmen.“

Der Rest ist Untertauchen und Neubeginn. Auf dem Land und fern vom Land, das der Hölle glich. Vladka Meed war eine von jenen, die alles miterlebt und überlebt haben. Solidarität und Denunziation, Mut und Feigheit, Kampf und Glück. Und pausenlos das schier endlose Auslöschen menschlichen Lebens. Einmal noch kehrt sie aus den USA zurück an die Schädelstätte in Warschau. Was bleibt, sind Schuldgefühle, gemischt aus Ekel und Wut. Verfolgung bis in die Gräber hinein, nicht einmal das Grab des Vaters findet sie: „Nichts. Nichts war mir von der Vergangenheit, von meinem Leben im Ghetto geblieben.“ Nichts? Doch. Die Niederschrift dieser dramatischen Erlebnisse. Ein beeindruckendes Dokument. Für Leser, denen die Hölle im Leben nicht gleichgültig ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite