Eine Rezension von Manfred Lemaire


Er kann Horror nur

Stephen King: Das Leben und das Schreiben
Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer.
Ullstein Berlin, Berlin 2000, 233 S.

Dieses bisher letzte Buch von Stephen King fällt aus dem Rahmen. Es ist kein Horrorroman, sondern ein Lebenslauf - so betitelt er die ersten hundert Seiten - und ein Exkurs über Literatur, gefolgt von einem Nachtrag zu einer Biographie. Darin beschreibt er einen 1999 erlittenen schweren Unfall, durch den er fast umgekommen wäre, und dank ärztlicher Kunst die Rückkehr ins Leben, das für King schreiben bedeutet. Vorangestellt sind drei Vorwörtchen, eins hätte es wohl auch getan. Den Abschluß bilden drei Bücherlisten: von King gern gelesene und dem Leser zur Lektüre empfohlene Titel sowie die von King im Buch erwähnten Titel anderer Autoren und eigenen Bücher, eine stattliche Reihe. Wie es scheint, hat er keinen seiner Titel zu erwähnen vergessen. Auch ein erfolgreicher Autor darf ein wenig eitel sein.

Inhaltlich interessant und glänzend geschrieben ist der Lebenslauf samt Unfall- und Krankengeschichte. King, Jahrgang 1947, kommt aus einfachsten Verhältnissen, wie es so schön heißt. Die Mutter hat ihn und den zwei Jahre älteren Bruder allein aufgezogen, mit ihrer Hände Arbeit ernährt und gekleidet und zur Schule geschickt. Sie war, schreibt er, eine emanzipierte Frau wider Willen. Man begreift, daß dieser Junge - ob als Schüler oder als Wäschereiarbeiter und dann als jung Verheirateter mit zwei Kindern - hungrig war auf ein besseres Leben. Man begreift, daß er die ununterdrückbare Anlage hatte, phantastische Geschichten zu erfinden, aufzuschreiben, in Umlauf zu bringen. Aus beiden Gründen wurde der hungrige junge Geschichtenschreiber zum Bestsellerautor.

King nennt diesen Lebenslauf seinen Versuch, die Entwicklung zum Schriftsteller nachzureichen. Es ist ein ganz und gar gelungener Versuch. Mit Schnappschüssen, in kurzen Geschichten wird das ungeschminkte Leben geschildert, das es in Durham gab, im Kaff seiner Jugendzeit, wo er so ziemlich allen Dreck kennengelernt hat, mit dem die armen Leute in der armen Provinz der großen USA zu tun hatten. Und King läßt uns miterleben, wie er zu seinen Geschichten gekommen ist. Er hat wie zufällig eine Idee, sieht einen Anfang vor sich, viel mehr noch nicht. „Eine Zeitlang behielt ich die Geschichte auf der Warmhalteplatte, ließ sie auf der Schwelle vom Unterbewußtsein zum Bewußtsein vor sich hin köcheln...“

Seine erste Geschichte wurde in einer Fanzeitung von Horrorfreaks veröffentlicht. Schon als Junge fühlte er sich von dem Milieu angezogen, das er später in mehr als zwei Dutzend Variationen zu Romanen verarbeiten sollte. Schon mit dreizehn verlangte es ihn „nach Monstern, die ganze Städte fraßen, nach radioaktiven Leichen, die Surfer verschlangen, und nach Mädchen in schwarzen BHs, die wie Flittchen aussahen. Horrorfilme, Science-fiction-Filme, Filme über herumlungernde Jugendgangs oder Rebellen auf Motorrädern turnten mich an.“ Ein Psychoanalytiker könnte sagen, King sei im Grunde nie erwachsen geworden. Wieder und wieder, so bekennt er selbst, hat er seine frühe Liebe zu Horrorcomics in Erzählungen umgesetzt, bis es schließlich langweilig wurde. Er schreibt seinen eigenen Abgesang: „In mir steckt die Liebe zur Nacht und zum quietschenden Sarg ... mehr habe ich nicht.“

Er kann Horror nur - und sonst gar nichts? Mit seinem Lebenslauf beweist King, daß er Literatur kann. Das ist richtig gut. Er hat nichts gemein etwa mit seinem Todesmarsch (The Long Walk, 1979, deutsch 1987), von King als eines seiner liebsten Bücher bezeichnet. Über Geschmack soll man nicht streiten. Über Literatur schon eher. Im zweiten Teil seines Buches, nach dem Lebenslauf, bietet King seine Auffassung an: „Leser lassen sich im großen und ganzen nicht von der literarischen Qualität eines Buches zum Kauf animieren; sie wollen eine gute Geschichte mit ins Flugzeug nehmen, die sie fesselt, hineinzieht und zum Umblättern zwingt.“ Das ist eine Rechtfertigung für Todesmarsch und andere Kings, auch für Carrie (1974, deutsch 1977 und 1992), Kurzroman über ein junges Mädchen, eine Außenseiterin mit telekinetischen Fähigkeiten, den King selbst als schlicht wie ein Märchen bezeichnet und nicht als intellektuellen Höhenflug werten möchte. Aber solch Hokuspokus verkauft sich.

Das Thema „Wie wird man ein (erfolgreicher) Schriftsteller?“ zu behandeln ist in den USA nicht ungewöhnlich. Es gibt dort nicht nur erschreckend viele Analphabeten, sondern auch mehr als hinreichend Schreibschulen und Schreibseminare. King selbst hat sein praktisches Wissen, seine Erfahrung in Vorträgen weitergegeben. Hier nun bietet er die Langfassung eines solchen Vortrages an. Schreiben ist veredeltes Denken, lesen wir da. Nun, das ist seine Ansicht. Wir erfahren viel über Figuren, Schauplätze, Dialog, über die Methodik des Schreibens. Das mag alles richtig sein und ist doch voller Allgemeinplätze - aber für wen hat King diesen zweiten Teil seines Buches eigentlich geschrieben? Für ein Kolleg mit literarischen Novizen? Für US-Bürger, die ein King werden möchten? Man wird das Gefühl nicht los, daß hier den hundert Seiten Lebenslauf weitere hundert Seiten Schreibunterricht für Anfänger und Fortgeschrittene angefügt worden sind, um einen passablen Buchumfang zu erreichen.

Was King in diesem Teil des Buches wirklich zu sagen hat, beispielsweise seine Polemik gegen die Literaturkritik und gegen das volksverdummende Fernsehen, seine von Herzen kommende Werbung für das Lesen von Büchern, sogar von guten, seine Ehrenrettung für John Grisham (den er zunächst als Schreiberling aus Mississippi bezeichnet hat), seine Beckmesserei an die Adresse anderer Schriftsteller - all diese Bemerkungen hätten im Lebenslauf untergebracht werden können. Da hat er doch auch Platz gefunden für ein spezielles Schreib- und Schriftstellerproblem, Suff und Drogen. Nicht zufällig handelt sein drittes Buch The Shining (1977, deutsche Shining, 1980) von einem alkoholkranken Schriftsteller, der - wie King - vorher Lehrer war. Schonungslos schildert er nun, wie er seine Monster unter Kokain zu Papier gebracht hat. Gegen solche verdichteten Passagen fallen die Ratschläge für Schreiblehrlinge kraß ab, obwohl sie munter formuliert sind.

Bleibt noch anzumerken: Auch bei King sind Fremdwörter Glücksache. Da findet er (S.251), der Ausdruck in medias res heiße so viel wie „mittendrin anfangen“, nämlich mitten in der Geschichte, und sei eine uralte, ehrbare Technik des Schreibens (die ihm nicht gefällt). Nun, Horaz meint mit den drei Worten medias in res (so richtig in ars poetica 148f.), ein Plauderer und mehr noch ein Dichter müsse ohne Umschweife in die Mitte des Stoffes eilen, so wie Homer, der nicht beim Ei der Leda angefangen habe, nicht beim Urschleim, wie man heute sagt, man dürfe sich also nicht bei langer Vorrede aufhalten.

Übrigens empfiehlt King an anderer Stelle selbst, beim Schreiben alles Überflüssige wegzulassen. Die unausgesprochene Botschaft des Buches aber lautet: Ohne Talent, Besessenheit und disziplinierte Arbeitswut wird man kein erfolgreicher Schriftsteller. Nicht zu vergessen Phantasie. Und davon hat King ja mehr als genug.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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