Eine Rezension von Richard Niedermeier


Verstellte Wirklichkeit

Johannes Hösle: Vor aller Zeit
Geschichte einer Kindheit.
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 2000, 128 S.

Ein kleines Dorf, irgendwo in Oberschwaben, in den dreißiger Jahren - das ist die Welt, die der emeritierte Romanistikprofessor Johannes Hösle in seinem Buch Vor aller Zeit lebendig werden läßt. Die Hauptfigur darin ist er selbst: ein in den bescheidenen Verhältnissen einer Schusterfamilie aufwachsender, aber aufgeweckter Junge, der es trotz ungünstiger Voraussetzungen zum Gymnasiasten im gutbürgerlichen Memmingen bringen wird - damit endet das Buch -, um schließlich gar eine akademische Karriere zu machen. Der erste Teil eines als Autobiographie angelegten Bildungs- oder Entwicklungsromans also, dessen Fortsetzung der Verfasser in der Tat auch schon angekündigt hat? Nein, eher die Schilderung eines mythischen Urgrundes, der das Leben Hösles auch dann noch bestimmt, als er sich bereits auf der Ebene des Intellekts davon losgesagt hat. Dieser mythische Urgrund, der das Denken, die Wertvorstellungen, die Phantasie und selbst noch das Empfinden des Kindes in Beschlag nimmt, begegnet uns in der Gestalt des Katholizismus auf jeder Seite dieses Buches in irgendwelchen Facetten und Nuancen. Es ist aber nicht der große Katholizismus der theologischen Denker, der Dogmen und Lehren oder der geschichtsprägenden Gestalten; sondern der kleine Katholizismus des Volksglaubens mit seinen Wallfahrten und Prozessionen, der Heiligenverehrung und den Ablässen, mit all den die Grenze zum Aberglauben mitunter überschreitenden Vorstellungen, die die Menschen auf dem Land damals hatten und haben konnten. Und weil Mythen zeitlos oder „vor aller Zeit“ sind - so der Doppelsinn des Titels, der zuerst aus der ersten Strophe des Kirchenliedes „Großer Gott, wir loben dich“ zitieren will -, darum richtet sich der Ablauf des Buches an den kirchlichen Festen und liturgischen Zeiten aus. Erst das zehnte und letzte Kapitel („1939/40“) weicht davon ab und markiert den Eintritt in die Geschichtszeit. Diesen katholischen Bodensatz, diesen Mythos geht der Verfasser nun gerade nicht mit der Rationalität des aufgeklärten Menschen und Lehrstuhlinhabers an. Es ist - fast durchweg - die Perspektive des Kindes, aus der die Ereignisse geschildert und nacherlebt werden. Mag sein, daß Hösle damit den Ur- und Abgründen seiner eigenen Empfindungswelt auf die Spur kommen will; eine Art tiefenpsychologischer Selbstheilungsvorgang also. Ganz gewiß jedoch eröffnet ihm diese zurückgesetzte Perspektive die Möglichkeit zu einer viel schneidenderen Kritik, als sie dem reifen und aufgeklärten Bewußtsein je möglich wäre. Denn noch nie hat es der Logos, die Vernunft, vermocht, den Mythos endgültig auszuhebeln, der in diesem Widerstreit immer entwischt, sich entzieht, um in aller Macht einmal wiederzukommen. Hösle nimmt diesen Kampf erst gar nicht auf; er will sein mythisches Erbe an der Realität zerbrechen lassen, und zwar an der Realität, wie sie von einem Kind erfahren wird. Im Geist und mehr noch im Erleben des Kindes kommt diese Realität viel eher zu ihrem Recht als in der verbogenen Gedankenwelt der Erwachsenen. Das Kind fragt und hinterfragt damit zugleich; stellt in Frage, was völlig fraglos geworden ist. Und es ist gerade nicht fähig zur Welterklärung. Die Welt erklärt sich eben selbst, wenn man ihr nur nicht immer etwas vorschiebt, oder sie bleibt ein Rätsel, das ausgehalten werden muß. Wo aber nichts mehr verstellt wird, prallen die Gegensätze in aller Härte aufeinander. Der ironische und antithetische Erzählstil spiegelt dies wider. Da glaubt z. B. eine etwas einfältige Dorfbewohnerin, eine Marienerscheinung zu haben, sie schaut, noch auf den Knien, genauer hin und erkennt eine rauhreifüberzogene Pappel. Das hindert sie aber nicht, an ihrem Anspruch auf ein religiöses Erlebnis festzuhalten: „Aber das wußte sie: So mußte Maria sein. Hoch, hell, rein, licht und ganz weiß.“ Es gibt viele solcher bis ans Komische oder gar Groteske reichenden Szenen, die allesamt die tiefe Kluft zwischen der Glaubenswelt der Dorfbewohner und der ganz alltäglichen Realität enthüllen. Da wird geflucht, während man an Sonntagen sich an erbaulichen Predigten freut; da herrscht kleinlicher Krämergeist, während man global von der Katholisierung der Welt träumt. Obgleich dieser fromme Überbau immer wieder durchbrochen wird, zieht er doch im Denken, im Gefühlsleben und im Gewissen der Menschen tiefe Furchen: „Gott war überall. Er hörte alles, Er sah alles, Er wußte alles. Wenn ich brav war, dann freute Er sich, wenn ich böse war, dann zürnte Er“, so setzt das erste Kapitel ein und gibt damit schon das Leitmotiv eines göttlichen Über-Ichs vor. Ist es überhaupt der christliche Gott der Gnade, der Garant menschlicher Freiheit oder nicht doch eher eine nur christlich überkleidete, heidnische Gottheit, die sich da wie eine zentnerschwere Last dem Menschen auferlegt? Man leistet jedenfalls Gehorsam und erwartet dafür ein Mindestmaß an Lebenssicherheit, vielleicht auch mal ein Wunder. „Do ut des“ - „ich gebe, damit du gibst“, so hat die Antike diese Art von Religiosität treffend umschrieben; ein Geschäft, bei dem die Dorfbewohner freilich immer den kürzeren ziehen. Als der Vater stirbt und das Wunder ausbleibt, kommen dem jungen Hösle, nun schon Gymnasiast in Memmingen, Zweifel: „Ich sah auf einmal, daß die Heiligen, wenn man etwas von ihnen brauchte, immer gleich dreinguckten. Da kam es mir auf einmal vor, als seien sie nichts anderes als ein bißchen bemalter Gips oder geschnitztes, wurmstichiges Holz.“ Man muß freilich das dörfliche Milieu bereits verlassen haben, um diesen Frevel zu denken. Und doch wirken auch jetzt noch die alten Denkverbote nach: „Das waren entsetzliche Gedanken, man mußte sie unterdrücken.“ So durchzieht untergründig Gewalt das Leben: Da sind die sozialen Schranken, die von der Religion legitimiert und stabilisiert werden. Es ist z. B. fast unmöglich, sich diesem Milieu zu entziehen, Bildung und damit auch Selbstbewußtsein zu erwerben. Da drängt sich die auferlegte religiöse Ideologie vor die unmittelbare Erfahrung der Wirklichkeit und macht die Menschen abhängig vom Verstehensmonopol ihrer Priester; da unterdrücken und diskriminieren asketische Ideale schon den ersten Anflug pubertärer Sexualität. Vor allem aber ist es die innere, die verinnerlichte Gewalt, die Zwang ausübt: das fest eingewurzelte Bewußtsein, immer schuldig oder von schwerster Schuld bedroht zu sein. So denkt etwa der Erstkommunikant über eine kleine Regung von Neid nach und ist überzeugt, daß sie in letzter Konsequenz zum Mord führen wird. Befreiende Gegengewalt hat hier keine Chance mehr. Aber es gibt, wenn auch ganz selten, Anflüge von Poesie, die in Hösle einen unbezwingbaren Rest, einen nicht weiter zu manipulierenden Personenkern vermuten lassen: „Schöner wäre es gewesen, dem Rauschen oder Säuseln des nahen Tannenwalds ... und den dort singenden Vögeln zuzuhören, aber das konnte ich nur, wenn Gott nicht wie so oft durch die Stimme des Gewissens zu mir redete.“ Es gefällt ihm, sich im Geäst eines Baumes sitzend vom Wind hin und her wiegen zu lassen, den Ameisen oder den Schnecken zuzuschauen, die sich ohne irgend einen Drang zur Aggression lieber bei Gefahr in ihr Haus zurückziehen. Hösles Schneckenhaus ist, wenn auch begrenzt, die Familie: „Am liebsten jedoch war ich immer daheim und im Haus, in der Werkstatt beim Vater, in der Küche bei der Mutter.“ Auch wenn die bescheidenen Verhältnisse und die Einbindung in die dörfliche Gemeinschaft keine Insel der Seligen zulassen, erlebt der Junge in der Familie doch Geborgenheit, Echtheit, Wahrhaftigkeit. Ein Plädoyer für das Refugium Familie also? Das wäre wohl zu hochgegriffen und stünde selbst wieder unter Ideologieverdacht. Wohl aber die lebenserfahrene Einsicht, daß es die ursprünglichen Gegebenheiten (Natur, Familie) sind, die allen Verbiegungen entgegensteuern. Trotzdem sind auch sie kein wirklicher Kontrapunkt zu jener realitätsentfremdeten Existenz, die Hösle im Visier hat. Denn der große Dämon, vor dem man sich in religiöser Skrupulanz so fürchtet, sitzt eben nicht in den kleinen Versuchungen des Alltages, sondern in Berlin, von wo aus er die Geschicke auch dieser Menschen so unheilvoll bestimmen wird. Dies frühzeitig zu sehen, hat die religiöse Enge verwehrt. So gehen lange Zeit die Uhren in diesem Dorf anders, folgt das Leben dort eigenen Rhythmen und Gesetzen. Adolf Hitler jedoch hat diese Uhren ein für allemal angehalten. Das Ende der Vor-Zeit.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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