Eine Rezension von Helmut Hirsch


„Mein höchster Wunsch ist erfüllt“

August von Goethe: Auf einer Reise nach Süden
Tagebuch 1830.
Erstdruck nach den Handschriften.
Herausgegeben von Andreas Beyer und Gabriele Radecke.
Carl Hanser, München 1999, 335 S.

Zuerst Johann Caspar, dann Johann Wolfgang, schließlich auch August Goethe, sie alle wollten in den Süden, waren in Italien, und alle haben sie, jeder auf seine Art, ein Tagebuch ihrer Reise hinterlassen. Goethes Sohn August startet unter ähnlichen Voraussetzungen wie der Vater. Er ist seiner Weimarer Mansardenexistenz überdrüssig, will sich von seinen „physischen moralischen Übeln“ befreien. Ganz still und heimlich wie der Vater stiehlt er sich aber nicht fort aus der Stadt. Frau Ottilie weiß Bescheid, der Vater gibt noch ein paar Ratschläge, und er hat einen Gefährten zur Seite, auf den der Vater in jenen Jahren eigentlich nicht gern verzichtet: Eckermann. Im April 1830 geht es über Frankfurt in Richtung Mailand. Unterwegs wird er „ungeheuer zusammengerumpelt“, und es müssen ein paar Tage Ruhe eingelegt werden, „um einige wundgesessene Stellen zu heilen“. Eckermann wird zu Beginn als „ein ausgezeichneter Reisegefährte in jeder Hinsicht“ gelobt, später macht er sich tagsüber eher aus dem Staube und verläßt August Goethe schon am 24. Juli in Genua.

Täglich setzt sich der Sohn hin, um Tagebuch zu führen, das in regelmäßiger Folge nach Weimar zum Vater geht. Der freut sich über den Fleiß des inzwischen Vierzigjährigen, gibt auch in seinen Antwortbriefen gern einen Rat: „Ob Du nunmehr bey Deiner südlichen Tour über Lodi, Piacenza, Parma, Reggio, Bologna, Ravenna ans adriatische Meer gehen magst, von Rimini an denselben her, auf Loretto und dann auf Rom Dich wendest, das ist Deine Sache, welches Du bedenken und nach Einsicht verständig wie bisher ausführen wirst. Du mußt Dir immer sagen: Deine Absicht sey, eine große Welt in Dich aufzunehmen und jede in Dir verknüpfte Beschränktheit aufzulösen.“ Überall, wo er hinkommt, trifft er „Bekannte“. In Mailand den Bankier Mylius, in Genua gar den ehemaligen Liebhaber Ottilies, Charles Sterling. In Neapel wird es der Archäologe Zahn sein, während ihn in Rom der Maler Preller an die Hand nimmt.

Wo er überall war, ist vielleicht für den heutigen Leser nicht allzu belangvoll. Immerhin kommt er auch nach Florenz, das der Vater bei seiner Reise ausgelassen hatte. Was bei der Lektüre dieses Buches überrascht, ist der durchweg lebendige Ton des Tagebuchschreibers August Goethe. Er registriert nicht nur, er beschreibt auch seine Empfindungen, beobachtet Leute und Gewohnheiten. Es geht ihm, wie es jedem Italien-Reisenden zu allen Zeiten ergehen muß: „Es ist gar zu herrlich hier und man fängt nun nach dem ersten Staunen an zu genießen.“ Entzückt von Kirchen, Kanälen und Gondeln, ist August in Venedig sogleich „16 Stunden auf den Beinen“. Dann bestaunt er die Meeresfische, Wunder über Wunder, die man in Weimar noch nicht gesehen hatte. Er durcheilt die Museen und Paläste, erschöpft vermeldet er dem Vater: „Ich glaube, es gibt nichts ähnliches in der Welt.“ Später sieht er das Adriatische Meer in La Spezia, neue Blicke, neue Schönheiten. Doch hier geschieht ihm ein Mißgeschick, die Kutsche wird umgeworfen, ein Schlüsselbeinbruch zwingt ihn zu häuslicher Ruhe. Immer wieder sinniert er, betrachtet sein nördliches Leben. In den Briefen an Ottilie, die neben den Tagebuchseiten geschrieben werden, sieht man den angekränkelten August. Aber die Reise nach Italien wird zum Ereignis. Sizilien sieht er nicht, doch Pompeji, wo er sich gern herumtreibt, dann Paestum und schließlich, kurz und hektisch, Rom. Vieles wird „bewundert“ und „gefühlt“, trotz der Geschwindigkeit des Touristen, der überdies für den Vater in Weimar Münzen, Medaillen und kleine Kunstgegenstände einkauft. Gegenüber dem Vater ist das Wort oft überraschend devot gesetzt. Nur einmal ein Seitenhieb, als in der Frühe die Kanonen im Hafen von Neapel donnern, den Namenstag des Königs zu feiern. Er fragt den Diener, was das sei, und nachdem er den Anlaß kennt, legt er sich wieder ins Bett. „Sie haben ja auch“, notiert er ins Tagebuch, „lieber Vater, bei der Belagerung von Mainz geschlafen.“ Bisweilen dringt ein burschikoser Ton durch, besonders wenn er berichtet, wie er mit dem Volk, mit den Musikanten feiert und großzügig spendiert. So weiß der Vater gleich, warum es am Ende ein paar weniger Medaillen wurden. Vom Wein ist auch die Rede, und eine volle Flasche ist ihm lieber als eine leere. Das ging so weit, daß die Herausgeber noch in den Handschriften („legasthenische Schwächen“) deutlich die Spuren des Alkohols erkannt haben. Unglück und Schauspiel liegen dicht beieinander. In Weimar waren es kleine Rollen auf der Bühne, hier, im aufgewühlten Wasser vor Amalfi, „schäumen und brechen“ die Wellen gleich „häuserhoch“. „Was war zu thun? Ich nenne mich Arimbiörn der Seekönig und fange an zu commandiren, das heißt ich biete jeden der Barcaroles 5 Flaschen Wein, Makkaroni und buon Mano.“

In Rom schließlich werden die Notizen immer knapper. Es scheint ihn nicht nur zu erheben, es erdrückt ihn auch alles in seiner Fülle und Pracht. So „will ich nur bemerken, daß ich da war, mündlich mehr davon“. Mancher Tag wird zur „Teufelstour“, doch am 16. Oktober 1830, elf Tage vor dem plötzlichen Tod, versammelt er unter der Überschrift „bester Vater“ die Quintessenz seines Rom-Gefühls: „Mein höchster Wunsch ist erfüllt! Ich habe Italien gesehen und genossen, bin reich an Kenntnissen von Kunst, Leben, Treiben und Natur geworden ...“

August reflektiert nie, analysiert nichts. Wie betäubt jagt er durch die Vatikanischen Sammlungen: „... das grenzt an Wahnsinn und man wird ganz turmlich.“ In den Bergen von Tivoli sieht er plötzlich ahnungsvoll den Schloßturm aus Weimar zwischen den Wassermassen. Dann endet das Tagebuch. Bis zuletzt eilt er von Besuch zu Besuch, von Ort zu Ort, ein Scharlachfieber schwächt ihn, am 27. Oktober 1830 erleidet er einen Schlagfluß und stirbt. August Kestner, Goethes Widerpart aus jungen Jahren, ist bei ihm, berichtet dem Vater das Unglück. Sein Brief, am 28. Oktober geschrieben, kommt am 10. November in Weimar an. Ist das erwähnenswert? Ja! Denn schneller geht's auch heute kaum. Eher schon dauert es länger.

Dieses Buch ist eine erfreuliche Bereicherung zum Thema Goethe. Vielleicht auch etwas für akademische Bücherregale. Denn noch immer geistert das matte, arg trübe Bild des Sohnes Goethes umher. Er war kein Licht, er war aber auch kein Schatten. Zumindest nicht der Schatten seines Vaters. Die Grabstele in Rom hat etwas von der seltsamen Spannung überliefert, die den Sohn zur Seite gedrückt hat. „Goethe der Sohn, seinem Vater vorangehend, starb vierzigjährig“, dies ließ Vater Goethe in den Stein meißeln. Und es ist kurios, daß der Sohn just an jener Stelle beerdigt wurde, die sich der Vater schon 1788 für sein Jenseits gewünscht hatte.

Der Weimaraner Stephan Schütze würdigt in einem Nekrolog, womit dieser Band schließt, August Goethe. Er lobt dessen „gesundes, treffendes Urtheil“, erwähnt auch poetische Versuche, die in dem Blättchen „Chaos“ abgedruckt wurden. Bei aller Freude bleibt in diesem Nachruf aber auch die Zunge Schützes etwas trocken: „Etwas Gewaltsames, das mit einem Übergewicht des Materiellen sich allmählig in seine Lebensweise mischte, brachte Veränderungen in ihm hervor, die für sein Glück, ja für sein Leben fürchten ließen. Nur zu bald traf ein, was man besorgte.“

Wenn Goethe-Lesern bisher der Sohn August nur als eine Art Anhängsel erschien, so ist dieses Buch ein Anlaß für neue Blicke hinter die Kulissen der Wirklichkeit, die immer aus Vorder- und Rückseite bestehen. August Goethe, das wird hier nachvollziehbar, blieb sein kurzes Leben lang dem Vater ergeben. Daß er selbst Familienvater und der Mann der Ottilie war, wird in diesen Blättern nur angedeutet. Über allem stand Johann Wolfgang. Aber es gab auch Licht unter diesem Schatten. Und das leuchtet dem, der Lust verspürt, August Goethe auf seiner Italien-Reise zu begleiten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 11/00 (c) Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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